Necati Mert´s Kolumne

Melancholia Alle-Mania

   
Die Netz-Brücke
 
Nach der Aufenenthaltstour in der psychosomatischen Klinik Bad Dürkheim
oder die Kommunikation mit dem Kosmos fundiert auf manchen Mordgeschichten
von Thilo Them-All und Trapezunter Tour-Sinn

Lieber Erdling,

Ob Du jetzt diesen Zeilenzyklus als ein von oben herab wahnwitziges Wagnis eines Pflaumenaugusts, respektive Blödians herausliest, kann ich darüber beileibe nicht urteilen. Ich vollende nun, was ich mich vor Wochen, fast vor Monaten durch den Kopf gehen ließ: ein kleinliches Opus aufzusetzen – folgerichtig für eine Person und an sie adressiert. Also ein Brief, der sich auf das Gestern bezieht, aber der Gegenwart Gewähr bietet. Da begleite ich in meinem Gedächtnis- bzw. Gedankengebäude den urbanen, unverfroren, hemdsärmeligen, nachsichtigen Zeitzirkus wie ein dummer August. Ob mit diesen Zeilen in meinem diversen Dasein zuweilen eine Episode nährt oder sich eine Metamorphosen-Phase, ein Kapitel dem Ende nähert, läßt sich nicht registrieren.

Auch in meinem Gedächtnis hat der Krähwinkel Bad Dürkheim keine sprühende Spuren hinterlassen – außer dem Faktum, daß ich mich dort fünf Wochen lang frei vom sinnlichen Arrestlokal zu Hause fühlte. Echte Kontakte und Kommunikationen kamen kaum zutage. Ziemlich gelassen und ruhig Blut belassen konnte ich meiner Tätigkeit nachgehen und anstelle der zornigen zivilisations- und zeitgeistkritischen Texte und Traktate gefühlsbetonte sentimentale Verse und satirische Streitschriften aufs Papier bringen. Der Ritter Don Quijote aus einem kargen Steppendorf hinter den Bergen am östlichen Schwarzen Meer – so nannten mich laute Gutleut-Kultivierten und meinen spanischstämmigen Busenbruder, der mich sogar einmal besuchte – artikulierte ein paar Mal in Gesprächsrunden Attacken auf das soziale Umfeld als Auslöser der depressionären Dramen. Das tat mir gut, aber auch weiteren Beteiligten in Diskussions-Kulissen. Dann wieder zurück nach Zuhause, dem furiosen Fontäne der Melancholia. Keine taufrische Atmosphäre als die vorherige Sphäre. ...

Hoffentlich wirst Du mich jetzt nicht als Witzblattfigur fundieren, weil ich wieder auf diese gesichtlose Geschichte zurückgreifen mußte. Denn ich kann leidvoll und elend leben, aber kein Leid eines Lebewesen erdulden.

Auf Briefkontakte legte ich seit meiner frühen Jahren immer einen besonderen Wert. Im Seltenen bzw. gelegentlich griff ich auch für Liebes- und Sendbriefe zur Feder. Zumeist drehte es sich dabei um die kollektiven Kollekten, in Brocken um das Ellbogen-Elend, das meine Kindesjahre dominierte. Es mag ungereimt erscheinen, aber sagt dagegen den klaren Kampf an – vor allem seit ich die „Utopia“ des britischen Schwarzrocks Thomas Morus las, den wegen seines genialen Gemeinschaftsgeistes das konventionelle Königshaus abköpfen ließ. In gleichen Jahren brachte ich auch das Rebellenhaupt der Galeerenhäftlinge Spartakus, der von Römer-Södlingen in Thrazien versklavt, und nachdem die Meuterei wieder ins Joch gespannt worden war, in der Gladiatoren-Arena endete als Fraß für die Löwen. Beiläufig erfuhr ich von der Historie der Episode im sassanidischen Persien, wo die Almende des Allgemeinen aufblühte und natürlich geschlagen wurde. In meinem Oberstübchen blieb vor allem der epochale Epos des Scheich Bedreddin, dessen Jünger an der Ägäis im Aufstand gegen das Osmanische Sultanat die griechischen, jüdischen, turkmenischen Bauern, Handwerker, Fischer u.a. vereinigten und in der Meerzunge Karaburun (südlich von Izmir) ein Gesellschaftsgelände ausriefen, das unter dem Leitspruch „gemeinsam und gemeinschaftlich bei allem Tun und Teilen außer der Wange der Geliebten“. Von einem weit übermächtigen Heer des Serails wurden sie niedergemetzelt und achttausend übriggebliebenen Gefangengenommenen, unter dem schweigenden Himmel abgeköpft. Etwa während der gleichen Zeitspanne führte ein Thomas Müntzer in Thühringen die bäuerlichen Empörer und Angariar gegen die argen Agrarier, die auch niedergeworfen wurden – verraten vom protestantischen Reformations-Prediger Martin Luther.

Welchen Bezug die Thematik auf den Aufwand, von Herzen gern Briefe zu schreiben, hat... In mir schmerzt das gegenwärtige Elend wie das Gestrige. Dabei lasse ich mich nicht als revolutionär im kommunistischen Kompaß rubrizieren, auch nicht als anarchistischen Antipoden des Unrechts verzieren, da ich jeglicher Gesellschaftsgewalt entgegen gehe. Ich male mir vielmehr ein kommunitatives Kollektiv und stelle es unter dem Themen-Terminus „Kosmopolitania“. Zur Grundfeste eines solchen Gedankengebäudes gehört das autonome Individuum jenseits jeglichen Glaubenseifers wie Abrahams drei Bastarden, der Rasse, der ethnischen Identität, etwa des kollektiven Kompromisses bezüglich des Besitzstand-Status. ...

Diesen einen Brief möchte ich Dir zukommen lassen – unter keinen primären Prämissen, daß Du darauf reagierst. Jedenfalls bedeutet dies für mich ein großer Gewinn. Denn seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, habe ich solches Sonnen-Los nicht vollziehen können. Wenn Du jetzt in Deinem Gedankengang in Zweifel ziehst, daß ich Deine wohlgemüte, mirakulöse Vertrautheit für meinen Ideal-Deal mißbrauche, möchte ich mich bei Dir offenherzig entschuldigen, lieber Erdling.

Was in meinem Gedächtnis nach über einem halben Jahrhundert vernarbt bleibt, ist das gewesene Wesen, wie in diesen Zeilen noch erwähnt, dessen Adresse ich nicht gründlich suchte für einen postialen Kontakt. Ich leide schon geschont und schuldlos unter dem Fernweh, etwas synonym, nicht völlig anonym, sentimental und realitätsnah sollte es sich nachspähen lassen – statt zu spät. ...

Als ich mich dafür einstimmte, zum Pennen-Palast Melancholia in Bad Dürkheim zu gehen, schlug in meinem Haupthaus oben der Name Paul Lafargua (1842-1911) stets die Pauke wie ein Paternoster.

Dieser Monsieur mit Memoiren, wohnhaft Paris, Schwiegersohn Karl Marx‘, studierter Medikus, Vater von drei verstorbenen Kindern, Theorie-Trompeter für das „Recht auf Faulheit“ beging im Alter von siebzig Jahren gemeinsam mit seiner Gattin Suizid – nach einem appetitlichen Abendessen und anschließendem Opernbesuch. Dazu seine These: Wenn einem die Patina ansetzt, wird das Leben ab Siebzigsten unerträglich, sowohl für selbst als auch seine unmittelbare Umwelt.

An keinem Freitod dachte ich bisher. Jedenfalls noch nicht. Mich zieht aber nicht das Streben nach einem langen Leben. Solange ich mich auf diesem Erdenrund befinde, muß das möglichst erträglich, wenn nicht ganz schmerzfrei, zumindest mit milderem Leid laufen. Was jedoch nur noch ein Blütentraum bleiben mag. Paul Lafarguas „Recht auf Faulheit“ nehme ich, soviel es mir nun leid tut, nicht unbeschränkt in Anspruch. Denn ich fühle mich, aus welchem Ansporn auch immer, auf dem Pflicht-Pfad, den Blätterwald DIE BRÜCKE weiter grünen, stehen zu sehen. Zuweilen glaube ich, der Vulkan einer Venus kann mich eventuell zum vollblütigen Wollen führen – auch wenn nicht ideal in der Wolle gefärbt.

Trotz des elementaren Elends werde ich oft von Nostalgien wie Nomaden normiert und unternehme immer wieder Ausflüge in meine Kindheit. Ich gehöre von Natur aus der Spezies-Sorte der Müßiggänger, liege öfter auf dem Faulbett, jedoch nicht ganz einen Finger zu rühren. Entweder muß ich kaffeefarben Reime schmieden oder ein Schriftstück aus Weizen-Ähren kommentieren – in Sterne-Narben. ...

Unsere Wege wurzeln im getrennten Gestern, auch unsere bevorstehende Stege führen zum schwierigen, schäbigen, schrägen Morgen. Die leiblichen Lebenslinien begleiten den Verlauf zum Bergauf, leiten die Spuren auf den separaten Serpentinen. Manchmal bleibt uns unterwegs die Spucke weg, manches Mal die sentimentale Sophia. Zwischen Ideal und Real ziehen wir weitläufig – zwischen Staren-Schwarm und schweißig Warm. ...

Es fungiert und funkt kein Funke, aus dem das Feuer des Gefühlsgefüges entstehen könnte. Welch eine irrwitzige Ironie: Ich rief die Logik des Laien-Lateins zur Leitlinie, auf deren Länge von Amors Pfeil getroffen zu werden. Die mentale Mantik dieser Mathematik verleitete mich nur noch dazu zu lamentieren. Im meinem armseligen Gedankengelände unternahm ich immer wieder Ausflüge in die Zeit meines siebzehnten Alters. Vernarrt war ich in eine Eva. Vergessen. ...


Heldentaten des Thilo Them-All

Als eine der Augenmerk-Merkmale macht bei mir Paul Lafarguas „Recht auf Faulheit“ doch bemerkbar. Denn ich liege auf dem Couch, schmiede Verse, kreiere Kritik, kommentiere Vorkommnisse sozialen Urgrunds. Seit kurzem interessiert mich intensiv auch die Kreativität der Zweibeiniger-Tiere, die ich aufs Papier bringe – in literarischer Art der Satire. Es dreht sich dabei um die Mordgeschichten eines Er namens Thilo Them-All, der aus einem Dorf an der östlichen Schwarzen-Meer-Küste stammt. Alles gekünstelt, und einiges auf den Kopf gestellt. Als er vor etlichen Jahrzehnten in Kolonia an der Ruhr ankam, galt er als gehorsamer Gastling am Fließband einer Automobil-Fabrik, leistete hier jahrzehntelang quer Frondienst, quartierte in einer Kaserne aus dem Ersten Weltkrieg, schloß sich den Eßlingen der Vegetaria an. Denn er fürchtete, daß alles Fleisch im Guiren-Lande schweinisch sein könnte. Zudem trank er keine Milch, aß kein Jogurt, Butter, Käse u.ä. aus Angst vor der Schweine-Herkunft dieser Produkte.

Nach zehn Jahren kaufte er sich einen Wagen der Marke Mercedes, fuhr zu seinem ersten Urlaub in seinem gebürtigen Dorf. Dort erschien ihm alles ziemlich fremd und unterwertig. Er konnte endlich essen und trinken. Sein Augenmerk galt gewichtig auf Ziegen. Bevor er sich zurück nach Eldorado auf den Weg machte, widmete er sich dem Gedanken, eine Ziege mitzunehmen. „Ich kann sie melken, reichlich Milch trinken, daraus Jogurt, Butter und Käse verfertigen. Wenn sie dann keine Milch mehr gibt, kann ich sie schlachten und frisches Fleisch essen.“

Dann fuhr Thilo Them-All mit seiner Ziege im Hintersitz seines Mercedes los, im Wachtraum. Nach zwei Tagen unterwegs, der Halt vor den Grenzpostens Teutonistans. Paßkontrolle okay. Dann zwei Zöllner neben seinem Wagen. Er fragte:

– Haben sie etwas zu verzollen, Herr Tee...?

– Nee, sagte er, ohne sich wie der Zögling zu zögern.

Daraufhin der Zölling:

– Und was sitzt da hinter Ihnen?

– Ach das da... Das ist mein Hund.

– Ihr Hund!.. So seltsam... Und wer ihm die Hörner aufgesetzt? Vor allem wie?

– Wie?... Das weiß ich nicht. Wir leben schließlich in einer frischen freien Nischenzeit. Daher mische ich mich in die Privatsphäre meines Hundes nicht ein.


Thilos Triumph auf der Singakademie der Integrationale

Den Namen Thilo Them-All legte sich der einstige Fremdling in den ersten Dekaden seiner Ankunft heimlich zu und behielt bei, ließ auch amtlich beglaubigen, indem er nach einem viertel Jahrhundert seiner braven heimeligen Bleibe in dem neuen Mutterland neutralisiert wurde. Er galt genial gut integriert, obwohl er von Intriganten der Obrigkeit oft selektiv interveniert. Seinen anfangs mitgebrachten Glauben gab er nicht auf, legte einen zweiten hinzu, nämlich den der Sekten-Sektion „Zeugen Jehovas“ – oder so was. Blutsbrüderschaft pflegte er zudem mit einem Ex-Orientaler namens Trapezunter Tour-Sinn, mit dem er sich einmal an einem Sonnabend traf, wechselseitig zu erzählen, wovon sie innerhalb der vorangegangenen Wochennächte träumten. Wie folgt nämlich:

– Vorletzte Nacht hatte ich einen gemeinen Traum, begann Thilo Them-All, ziemlich entsetzlich. Wir beide lebten noch in einem Dorf mit Kind und Kegel. Es war Nacht. Ich lag im Bett, hörte ein heftiges Klopfen an der Tür, stand sofort auf, öffnete sie. Was sah ich da? Deine Frau. Aus ihren Augen flossen Tränen wie ein Bach nach dem Regenguß. Zwischen lauten Schluchzen und Schreien sagte sie, du liegst wie ein Toter im Bett. Ich lief außer Atem zu eurem Anwesen und sah dich als blei-bleiche Leiche. Nach einer Weile nahm ich deine Frau in die Arme, um sie zu trösten, ein bißchen zu beruhigen. Dann warteten wir auf den Sonnenaufgang. Ich rief die Nachbarn zusammen, und wir trugen dich zum Friedhof. Noch am gleichen Tag besorgte ich mir Grassamen, säte sie in der frischen Erde deines Grabes.

Dann vergingen Wochen, das Gras grünte und wuchs. Ich ging fast täglich zu euch, um deine Frau wieder hoffen zu lassen. Wieder unterwegs eines Morgens erspähte ich eine Kuh auf deinem Grab grasen. Ich eilte gleich dorthin, schlug das treulose Tier in die Flucht, nahm am Grabstein einen Haufen Kuh-Kot wahr, der schrecklich stank. Eine Zeitlang schaute ich darauf, nahm eine Handvoll davon und meinte im tiefen AchWach: „Du mein Busenbruder! Was du einmal warst, was aus dir jetzt geworden ist...“ In diesem Augenblick hörte ich das Telefon läuten und wachte wackelig auf. Trauert, fast traumatisiert, aber auch erleichtert.

– Das alles hattest du tatsächlich im Traum? Fragte Trapezunter Tour-Sinn.

– So ist es, ich kann beim Herr der himmlischen Heerscharen schwören. Jetzt aber bis du dran, Trapezunter Tour-Sinn, mein aller engster fester Freund.

– So was ein zynischer Zufall! Alles, wovon du geträumt hast, geschah auch in meinem gestrigen Traum. Wortwörtlich nämlich, bis zum Kuh-Kot. Was ich auf deinem Grab wahrnahm, war ein brauner Bulle. Und als ich mit „Oha“-Rufen dorthin eilte, zeigte er mir die Hörner. Doch es gelang mir, ihn zu zähmen. Nachdem er sich entfernt hatte, kam ich zu deinem Grab. Kein bißchen Gras mehr, sondern Schaufelvoll Fäkalien. Das stank bis zum Himmel. Dem Anschein nach stillte der Buldozer-Bulle seine Freßlust auch auf den anderen Gräbern. Wie du es tatst, nahm ich extra eine Handvoll von Ochsen-Exkremeten exakt zu experimentieren. Denn ich wollte feststellen, welchen Urgrund diese extrem starke Stinke hat. Es dauerte nicht lange, und ich sprach zu mir: „Ulan mutiger Thilo Them-All, du hast dich auch unter der Erde gar nicht mutieren lassen.“ Und in diesem Augenblick fühlte ich, daß mich jemand am Kopf schüttelt. Erst dachte ich an den stinkigen Stier. Als ich aber die Augen aufmachte, also aufwachte, sah ich dich am Bett im Bademantel.


Die Metaphrasen-Mantik der Metamorphosen-Mathematik

An einem abseitigen Abend besucht Trapezunter Tour-Sinn ein merkantiles Meeting der Sarrazonar-Zonen-Zöglinge zum Thema Logik der lokalen kahlen Lobby und globalen Gockel-Glocken-Loyalität. Verstehen konnte er kaum etwas, kaum einen Raum gab es dafür in seinem Schädel, so daß er nächsten Spätnachmittag sich mit Neugier und ein paar Flaschen Bier zu seinem Busenbruder Thilo Them-All begab. Er stellte ihm, sobald er sich setzte, aufgeregt die Frage, ohne von den gestrigen Gegebenheiten zu berichten:

– Kannst mir verdeutlichen, was „Die Metaphrasen-Mantik der Metamorphosen-Mathematik“ bedeutet?

– Eigentlich heikel... Gebraucht wird Terra-Terminus im sarrazynischen Zitaten-Zirkel-Zirkus, um das Trojaner Pferd Teutonistans zu satteln und die Schatten des Kulturalismus zu schmachten – mit der Logik, um Lorbeeren zu ernten und wie eine Lore nackter Affen anzugeben... Verstehst du?...

– Wenig... Schwierig... Also Logik... Welche philosophische Phrase etwa wohnt ihr inne?

– Logik besagt, Gedankenketten mit- und nacheinander zu verknüpfen. Siehst du zum Beispiel da das Aquarium am Fenster voll mit Wasser, in dem die Fische schwimmen. Bunt, brünett, blond, dunkel, bläulich, bleich... Woran denkst du, wenn du das Ganz in deinem Blickfeld hast?

– Da sind Fische im Wasser wie im Meer...

– Genau, du denkst ans Meer... Und du fühlst dich sicher am Strand. Und woran denkst du dann?...

– An Wellen vielleicht, an die Boote, die hin und wieder vorbei schiffen...

– Ist das alles? Denkst du nicht an nette, blonde, brünette, dunkle, und sonst bunte Evas in Bikini?..

– Natürlich! Wie dumm, daß ein solcher wunderschöner Anblick mir nicht gleich in den Sinn kam.

– Jetzt verstehst du, hoffe ich, was Logik innehat...

– Nach dieser Stunde der Logik stand Trapezunter Tour-Sinn auf und lief hinaus, um sich ein Aquarium zu beschaffen. Schon draußen hielt er den ersten Mann, dem er auf dem Trottoir begegnete, und konfrontierte ihn mit der Frage:

– Hei du! Hast du zu Hause ein Aquarium?

– Nein, erwiderte der Fremde, überhaupt keines...

Daraufhin Trapezunter Tour-Sinn:

– Dann bist du ein Schwuler...


Thilo Them-All und der Googel-Gong der Globalismus-Glocken

Thilo Them-All, dem es gelang, mit seinem Instrumental-Intellekt bedeckt, auf der Karriere-Leiter vom Fließband-Malocher zu fleißigen Initiative-Integrator aufzukletter, vom trägen Tartüffe-Theater-Träger zum mainstream-medialen Presstituierten auf der Phrasen-Phantasie-Phasen-Schiene der Morade-Monomanie-Maschine zu mutieren, wider die prostituierten Poeten im gängigen Genre-Gebräu der gottesfürchtigen Gebrüder sich als freudevoller Friedensstifter und versorgter Versöhner titulieren ließ, errang die Meriten-Medaille des Mediators, nachdem er einen Monat lang einen Autobus zwischen Manhatten und Harlem ohne gewalthaltige Vorfälle chauffiert hatte. Das primär praktische Problem auf dieser Verkehrslinie kam immer wieder vor, daß die weißen Fahrgäste die vorderen Reihen in Anspruch nahmen und die Schwarzen keine andere Wahl ließen, dicht gedrängt an Hinteren zu hängen. Häufig brach daher ein Krach um Sitzplätze aus, der sich zu Schlägereien entwickelte und im Polizeirevier endete. Um diese furiose Frage in Griff zu kriegen, arrangierte das New Yorker Sekuritäts-Department einen Wettbewerb und lud aus NewEurope erfahrene Fahrer ein, unter ihnen Thilo Them-All aus Kreuzberg. Es gelang keinem, eine Busfahrt zwischen Manhatten und Harlem ohne Krawalle zu vollenden. Hätte nun dem Allemannen-Kandidat gelungen.

Er setzte sich im Besitz des Selbstvertrauens auf den Fahrersitz und gab Gas, indem er eine CD mit „Kreuzberger Nächte sind lang..., aber dann...“ Bereits nach ein paar Stationen stiegen weitere Fahrgäste ein, und alle Sitzplätze wurden belegt. Gleich danach ging es los. Thilo Them-All kümmerte sich wenig darum. In einer ziemlich dünnbesiedelten Gegend, gab er Auftrieb, betätigte gleich danach scharf die Bremse. Die Insassen fielen übereinander, manche stieß Schreie aus, einige erteilten einen Tadel. Ungetrübt ließ Thilo Them-All alle Türen und rief lauthals hinein:

– Auf der Stelle kommt ihr alle raus!

Das taten die Leute mit verschwommen Worten. Dann begann Thilo Them-All zu sprechen, samt und sonders, aber auch sorgfältig und saumselig. Oratorisch orientiert, ohrenfällig:

– Was soll denn diese selbstgefällige Sekten-Selektion im exemplarischen Exempel, welches für in der amtlichen Extra-Sektion liegt. Die einen weisen auf ihre weißen Haut auf, die anderen auf ihre schwarze Fellfassade... Immer diese faule Farce. Kennt ihr keinen anderen Farbton? Zum Beispiel grün. Ein Teil vielleicht oliv-grün wie JoJo-Fischer oder CD-Bandit, dann Chamäleon-grün wie Phantast-Fatima oder Jamostamir – alle Made in Germany. Jetzt könnt ihr wieder einsteigen!...

Die Menge drang in die vordere Tür, es kam zum Gezeter und zur Handgemenge. Thilo Them-All bewahr Ruhe, sprach aber unüberhörbar:

– Halt! Ulan ulkige Ulanen! Ihr benehmt euch wie Bellizismus-Bullen in den Zeiten des Zitadellen-Zirkus ohne Zensur-Zyklus. Etwas ethisch ethnisches Ehrgefühl vor der prostituierten Salon-Sophia aus den Zitaten-Zirkularen und Bankier-Bravour-Mafia gefälligst! Darauf ein Manhattener Macho schwarzer Grimasse unterwegs zu seinem Harlemer Haramiten-Harem:

– Eben legten Sie, Mister Tee..., dar, wir sind alle grün. Dann können wir dort Platz nehmen, wo wir wollen.

– Also furchtbar! Schleimhaft schlecht! Ihr vergeßt eure Zivilisationszugehörigkeit, eure integrationale Ideen-Identität. Ihr gehört zu Gockel-Groupies eines Imperium Amerikanum, das rundum auf dem Globus, vor allem in „Great Middle East“ orchestriert und orakelt, in allen Orten mannigfaltige Sorten des „Freedom and Democracie“ zu installieren, instrumental wie mental, gemäß der mondial moderierten Modernität mit High-Tech-Waffen und Heiland-Affen das Papageien-Propaganda-Papier parfümiert, partizipiert, das speckige Spektrum der primitiven Parias und populären Patrone paraphiert. Werft ihr ein Auge auf meine perfekte heimatliche Farbigkeit, auf Allemania-Alleen mit peripheren Getto-Quartieren der Urien-Urbanität zwischen Assimilations-Assen und Aspiranten-Massen sowie noblen Nordiden-Nomenklatur-Kulten. Also teilt euch! Die Oliven nach vorn, die Chamäleons hintenan. Die Lektüre der Selektions-Sektion studiert ihr zu Hause – im Jägerlatein-Lexikon, das ihr euch in Wall Street kostenfrei besorgen oder vom Pentogoniens Portal Downlauden.


Schubkraft der Schwulen

In der Muttersprache Thilo Them-Alls gibt es die Allegorie des Terminus schwul nicht. Wenn schon, dann meint er nicht die Maskuline, die mit Gleichgeschlechtlichen Analverkehr verüben: Päderasten, die als solche vor jeglichem schiefen Blick verschont werden, zudem sogar in Acht genommen. Andere heißen Lustknaben, jedoch nicht aufs Alter bezogen.

Thilo Them-All, dem es zwar gelang, auf der Karriere-Leiter ein paar Stufen hinaufzuklettern, aber damit gab er sich keinesfalls gesättigt als ehrgeiziger Ziegenbock. Nächte lang dachte er machtlos an Mittel und Wege, verbrachte sie schlaflos. Alle Stege schien ihm auf den Serpentinen am steilen Bergauf schwierig, der Gipfel so weit wie die fernen Sterne. Was mußte er tun?

Als er einmal einfach an einem Schwulen-Lesben-Lokal vorbei lustwandelte, drehte er sich nach einigen Schritten um und trat aus purer Neugier dort ein. Sein Grußgott wurde aber nicht erwidert, und er verließ gleich die geschlossene Get-together.

Trostlose Tage vergingen, und ihm fiel gar nichts ein, kein einziger Blitz. Dann während eines burlesken Bummels an der ruhigen Ruhr begegnete er einer Kollegin vom artig arrangierten Amateuren-Amt der internen Integratoren, die ihn zu einer Palaver-Party am nächsten Sonnabend bei ihr einlud. Er zögerte sich eine Weile, weil er wußte, daß sie eine Lesbienarin war. Doch er sagte dann zu.

Am besagten Tag fragte er sich mehrmalig, ob er zu diesem Privatfest gehen sollte. Dann kaufte er eine Flasche Anisschnaps und fand sich nach der Eulenflucht etwas verspätet im Wohnzimmer seiner Kollegin – dicht nebeneinander mit Paaren beim Plaudern und Poussieren. Mann zu Mann, Frau zu Frau unterhielten, umarmten und liebkosten sie sich. Thilo Them-All suchte einen Stuhl pflanzte sich hin. Er beobachtete die Panorama und grübelte im Tiefen seines Verstandes nach: „Was hast du hier verloren, ulan uferloser Uhu?..“

Einmal, zweimal, dreimal, x-mal die gleiche Frage. Er fühlte sich einsam und gelangweilt, entschied sich zum Abgang. Als er aufstand und sich zur Tür näherte, wurde er von einem Jüngling angehalten:

– Es ist zu früh zu gehen. Bleib doch einfach! Ich setze mich zu dir.

Natürlich tat er das gleich auch. Er stellte Fragen, bekam anfangs halbe Antworten. Etwas später fühlte sich Thilo Them-All ziemlich erleichtert, empfing sogar voll Freude. „Jetzt habe ich das Ei des Kolumbus...“ dachte er und lachte im nachhinein.

– Worüber lachst du? wollte der Jüngling erfahren.

– Über meinen Ausweg aus der Sackgasse, in der ich seit einiger Zeit irregehe. Und auch über nichts... Das heißt, du könntest bloß mein Sohn sein.

– Hast du schon einen Sohn? Eine Familie? Das alles stört mich im geringsten. Was zählt, bist du.

Die Partner-Party verging langsam. Paare machten sich auf den Weg. Auch Thilo Them-All. Der Jüngling begleitete ihn bis zum Haustür, vor der er ihn festlich fest umarmte:

– Wir sehen uns bald wieder. Gibst du mir deine Telefonnummer? Hier hast du meine...

Unterwegs nach Hause interpretierte Thilo Them-All das schwule Thema als ein Glück zum soziablen Aufstieg, zählte er im Dunkel die Namen jener Yuppies, die sich in Spitzenpositionen bequemten. Er gehörte von nun an zur schwulen Sekten-Sektion, aber zu der Sorte der Päderasten. Dann vertiefte er sich in adoptierte Geschichten gestrig und gegenwärtig. In normierte Novellen. In neutrales Novum. Als erstes plante er, eine Kampagne zu starten: Quoten-Querulanten für die Schwulen in Leitstellen aller Strukturen. „Dann gelingt es mir sicher, linke Bürgermeister von Kreuzberg zu werden, fordere ich eine autonome Repertoire-Republik. Noch besser, ich rufe sie selber aus. Die Nationalhymne steht parat: Kreuzberger Nächte sind lang... Und die Flagge: Ein Hamsi-Döner! Keine Freizügigkeit für Kalifen und Kabale-Kabarettisten, für Kannegießer und Klimbim-Kleriker, für Krawall-Kreaturen sowie ähnliche Krethi und Plethi...“

Thilo Them-All tappte anfangs doch im Dunkel, nahm nämlich von jeglichem Taumel Abstand. Seine Kampagne unter dem Quoten-Qualm für Schwule verlief quer durch die Alternativ-Quartiere Kolonias, begleitet natürlich von seinem Privat-Partner, dem Jüngling, zu dem er Liebesverhältnis seit der Party seiner Integrator-Kollegin aufbaute. Die Aktionen verliefen seit kaum einem Quartal, ziemlich kreuz und quer. Relativ erfolglos, aber auch arglos.

Und dann das tragische Ende. Eines frühen Abends tauchte Thilo Them-All nach etlichen Wochen auf einmal bei seinem Busenbruder Trapezunter Tour-Sinn auf. Gequellt sah er aus, aschfahl, kahl und kalt.

– Deine Kampagne stieß in keinen Widerhall? Wahr?..

– Doch, etwas wahr. Schwierig. Solche Aktionen führen zum einigermaßen wünschenswerten Ergebnis nur langwierig. Die Quelle meiner augenblicklichen Qual liegt aber woanders. Offen gesagt, in meiner Partnerschaft. Vorgestern kam der Kerl in der Nacht nicht nach Hause. Diese treulose Tomate... Wir lag mit einem Ost-Osmanen in seinem Bett. Und gestern benahm er sich so, als ob es gar nichts geschehen sei. Daraufhin verpaßte ich ihm eine Ohrfeige, dieser treulosen Tomate. Dann verschwand er auf der stelle, und ich weiß nicht, wo er nun steckt.

– Ei, ei, Eifersucht! Ziemlich gemein von dir. Und was ist mit denen Affären? Bist du erst vor kurzem mit deiner Kollegin nicht ins Bett gegangen?

– Das läßt sich nicht vergleichen, Kelo. Ich schlief mit einer Frau, einer Lesbianerin, keiner Dulzinea, vor allem nicht mit einem anderem Mann, einem Schwulen.


Wasser wirkt als Gott aller Götter Wunder

Trapezunter Tour-Sinn, der durch alle intensiv repressiven Prämisse der institutionellen Intriganten-Instrumente hindurch passierte, endlich als innig integrierter Immigrant registriert zu werden, begann gleich nach seinem Naturalisieren unter etlichen gesundheitlichen Leibesschäden zu leiden – von konorarer Herzkrankheit, Magen-Darm-Blasen-Geschwüren bis hin zu psychosomatischen Pannen. Arztbesuche, klinische Aufenthalte, Rehabilitationsanstalten halfen nicht, und sein miserables Wohlergehen entwickelte sich ernsthaft zu einem Leidwesen. Hin und wieder sprach er mit seinem mit allen Wassern gewaschenen Busenbruder Thilo Them-All über seine Sorgen und Schmerzen, der ihm jedesmal einen langatmigen Vortrag hielt und den vorbildlichen Ratschlag gab:

– Trinken, viel trinken, bis vier oder lieber fünf Liter Wasser am Tag!

Trapezunter Tour-Sinn folgte dem Fingerzeig seines Kumpels, seine Miseren veränderte sich kein bißchen zum Guten.

Immer, wenn sich die Wege der beiden kreuzten oder sie sich verabredeten, jammerte der Trapezunter über ein komplettes Unwohl oder eine Beschwerde in einem Körperteil. Thilo Them-All wiederholte sich jedes Mal:

– Wasser trinken! Viel Wasser trinken!

– Das tue ich ja, aber es bringt nichts. Sollte ich vielleicht einen anderen Arzt aufsuchen – in einer anderen Gegend?...

– Schon wieder einem Medikus hinterherlaufen... Du muß trinken. Wasser wirkt als Gott aller Götter Wunder!

Trapezunter Tour-Sinn trank und trank weiter. Seine Beschwerden blieben trotzdem beschwerlich. Tatsächlich glaubte er dann und dann daran, was ihm Thilo Them-All einredete, daß die Schulmedizin weit weg von jeglicher Heilkraft dalag.

Seine Tage vergingen unter den schwarzen Wolken der Schmerzen. Dann schlug ihm sein Busenbruder einmal vor, einen Ausflug ins Freie zu vollbringen. Sie gingen durch Wäldchen und Weiden hindurch, kamen dann an einem See an, setzten sich unter eine Trauerweide. Eine Weile betrachteten sie die Landschaft, Sonne, Schatten und Vögel... Außer den beiden gab es keine Zweibeiner dort. Daraufhin bot Thilo Them-All an, ein Seebad zu nehmen. Die beiden zogen sich aus und sprangen splitternackt ins Wasser. Es dauerte nicht lange, Trapezunter Tour-Sinn begann zu schreien:

– Hilfe! Hilf mir!.. Ich kann nicht schwimmen, gehe im Wasser unter! Hilf mir schnell!.. Ich ertrinke...

Ein paar Meter vor ihm hörte Thilo Them-All das Geschrei, drehte sich um und rief ganz ruhig:

– Nicht sinken! Trinken! Wasser trinken!

Necati Mert

   

Beiträge, die nur im Internet und nicht in der gedruckten Ausgabe erscheinen

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  Oktober 2014