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Kunst
statt Pädagogik. Die Diskussionen in den Zeitungen scheinen mir vor
allem um eine zentrale Frage zu kreisen, nämlich: „Wozu, verdammt
noch mal, brauchen wir diesen Film eigentlich?", oder: „Warum
sollen wir uns das antun?" Dahinter steckt, meines Erachtens nach
die Überlegung, dass sich niemand grundlos mit der Hitler-Zeit beschäftigt,
sondern immer mit einer klaren Intention. Mehr oder weniger bewusst befolgen
wir alle Adornos Wort, unsere Bildung so zu gestalten, dass sich Auschwitz
nicht wiederhole. Und das ist natürlich auch gut so.
Die Diskussionen in der Presse zeigen, häufig schwankend zwischen
schroffer Ablehnung und duseliger Lobhudelei, wie aktuell die Prämisse
noch heute ist: zum Beispiel in der Berliner Stadtillustrierten „Zitty",
die eine Pro- und eine Contra-Position gegenüber stellt: Denn was
sehen wir da? Einen alten, kranken Hitler, ein paar Nazis mit einem Rest
von Ehre, das zerstörte Berlin. Und dazu hören wir Geigen, Cellos,
alles in Moll - und am Ende scheint die Sonne. ... Dieser Film macht schlichtweg
keinen Sinn und deshalb sollte man sich diesem Film verweigern, heißt
es von Matthias Kalle. Hingegen schreibt Michael Meyns: es zeigt sich,
dass die Verbrechen des Dritten Reichs nicht von Monstern begangen wurden,
sondern von Menschen, die sich letztlich nicht entscheidend von dem Volk
unterschieden haben, das ihnen so fanatisch gefolgt ist. Allein dies verdeutlicht
zu haben, ist dem Film nicht hoch genug anzurechnen.(1) - Gewiss haben
beide Autoren ihre Standpunkte mit Absicht so pointiert formuliert, um
die Struktur der jeweiligen Argumente sichtbar zu machen. Indes scheinen
beide in dem Film einen antifaschistischen Sinn zumindest zu suchen, weil
ein Film über die Nazis, ohne den Hauptzweck, dass Auschwitz nicht
sich wiederhole, keine Berechtigung hätte, ja sogar unvorstellbar
wäre. Michael Meyns schätzt den Film und meint, diesen Sinn
gefunden zu haben, Matthias Kalle konnte ihn nicht entdecken und verhält
sich infolgedessen gegen den Film.
Offensichtlich verlaufen die Grenzen zwischen dem berechtigten Interesse
an Aufklärung und Sensationslust fließend, nicht nur in Bezug
auf den „Untergang", sondern bei vielen Inhalten der Massenmedien.
Die einen gucken einen (Anti-)Kriegsfilm, um ihren Pazifismus zu festigen,
die anderen um fetzige Explosionen zu erleben. Darüber hinaus möchte
ich fragen, ob man über den Ablauf der Ereignisse im Bunker wirklich
dermaßen minutiös Bescheid wissen muss? Warum soll man so genau
wissen, dass Speer sich noch persönlich verabschiedet hat, Göring
indes nur einen anmaßenden Brief gefaxt hat?
Ich denke, wir bekommen etwas mehr Licht in die Sache, wenn wir den klassischen
Begriff der Aufklärung betrachten: sie meint einen Zuwachs an Mündigkeit
für das Individuum. Kant definierte sie bekanntlich als die Fähigkeit
des Individuums, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, ohne Hilfe
eines anderen, und sich dadurch aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit
zu befreien.(2) Und dazu gehört es natürlich auch, keinen Demagogen
auf den Leim zu gehen oder sich blind jedem äußeren Druck anzupassen.
Der Wert jeglicher Bildung und des Wissens wird gleichsam daran gemessen,
ob und wie weit sie dem Einzelnen dabei hilft, kluge und selbständige
Entscheidungen zu treffen. Bei jeder Information die Frage: „Und,
wozu hilft mir dieses Wissen?" Hannah Arendt entgegnete auf Adolf
Eichmanns Verteidigungen ausdrücklich: „Auch wenn achtzig Millionen
Deutsche getan hätten, was Sie getan haben, wäre dies keine
Entschädigung für sie!“(3)
In dieser Tradition stand auch die Aufklärung über die Nazi-Zeit,
wie sie von den Philosophen der Frankfurter Schule betrieben wurde: Man
muß die Mechanismen erkennen, die die Menschen so machen, daß
sie solcher Taten fähig werden, muß ihnen selbst diese Mechanismen
aufzeigen und zu verhindern trachten, daß sie abermals so werden,
indem man ein allgemeines Bewußtsein jener Mechanismen erweckt,(4)
erklärte zum Beispiel Adorno im hessischen Rundfunk um 1966. Mithin
lautet ihre zentrale Frage: Warum sind die Deutschen damals Hitler so
begeistert gefolgt? - Jede anspruchsvolle Auseinandersetzung mit dem Thema
sollte zumindest irgendetwas Erhellendes zu dieser Frage beitragen. Ihre
Antworten setzen teilweise beim deformierten Subjekt an, teilweise an
den gesellschaftlichen Strukturen und kulturellen Verhältnissen,
sowie an der Analyse der Propaganda- und Eventtechniken auf der einen
Seite, dem Überwachungs- und Unterdrückungs-Apparat auf der
anderen Seite. Dem hat der „Untergang"-Fihn keine wesentlich
neuen Erkenntnisse hinzuzufügen, und wenn wir streng wissenschaftlich
argumentieren, dass jede neue Antwort entweder eine bekannte Antwort übertreffen
muss oder überflüssig ist, dann wäre der Film überflüssig.
Das Wissen das uns gegenüber irrationalen und totalitären Regimes
aufmerksam macht, gewinnen wir aus anderen Quellen, nicht aus diesem Film.
Punkt. Aus. Erledigt.
Ich möchte dagegen vorschlagen, den Film als Kunstwerk zu betrachten.
Der Film selber hat eine solche Betrachtung durchaus verdient, denn das
Drehbuch ist spannend, die Dramaturgie fesselnd, die Schauspieler spielen
empathisch... Die Frage lautet, welche Konsequenzen dies hat und was bei
dieser Perspektive für uns rausspringt? - dabei muss klar sein, dass
die Kriterien an ein Kunstwerk sich fundamental von den Kriterien an ein
wissenschaftliches oder pädagogisches Werk unterscheiden. Pointiert
gesprochen, steht Aufklärung gegen Schönheit, Genuss gegen Information,
Wissen gegen Fiktion, Ästhetik gegen Klarheit, Emotionen gegen Rationalität...
und so weiter und so fort...
Die beiden zentralen Prinzipien der Kunst heißen: Ästhetisierung
und Isolierung. - „Ästhetisierung" meint nicht, dass das
Hässliche etwa schön gemacht würde, auch in der Kunst bleibt
das Grausame grausam, das Böse böse. Allerdings verlieren die
Phänomene ihre weltliche Dringlichkeit und Bedrohung; man kann sie
in einer Stimmung von interessenlosem Wohlgefallen schauen, wie es bei
Kant heißt, sie werden kontemplativ. Entsprechend meint „Isolierung"
auch nicht, dass Kunst über allen Dinge schwebe, weltfremd sei; wohl
aber, dass sie ihre Objekte aus ihren konkreten historischen Bezügen
löst und sie gleichsam in eine ideelle Sphäre projiziert, wo
sie an sich existieren.(5) Arthur Schopenhauer beschrieb es in seiner
Kunstphilosophie 1818 so: die Erkenntniß (reißt) sich vom
Dienste des Willens los, eben dadurch hört das Subjekt auf, ein bloß
individuelles Subjekt zu seyn und ist jetzt reines, willenloses Subjekt
der Erkenntniß, welches nicht mehr dem Satz vom Grunde gemäß,
den Relationen nachgeht; sondern in fester Kontemplation des dargebotenen
Objekts, außer seinem Zusammenhang mit irgend ändern ruht,
und darin aufgeht.(6)
Die Erkenntnis durch Kunst ist frei von jedem Verwertungsinteresse, mit
dem wir sonst die Gebrauchsgüter betrachten. Sie muss ihre Existenz
mit keinem übergeordneten Nutzen rechtfertigen. Sie ist damit auch
prinzipiell frei von allen pädagogischen Interessen, sowie, wenn
man es radikal sieht, von der Verantwortung für die eigene Wirkung
überhaupt. Im Extrem kümmert sich Kunst nur um sich selbst.
Hermann Pfütze erklärt: Es gibt höfische, religiöse
oder sozialistische Kunst, jedoch nicht „demokratische" Kunst
als Magd oder Protagonistin der Politik; und Demokratie ist auch nicht
Hort der Künste als Gesamtkunstwerk, wie der total durchkunstete
Hofstaat des Barock es war. Diese Definitions- und Bemächtigungsversuche
fallen unter die Rubrik „Kunst und Politik", aber nicht unter
Kunst und Demokratie.(7)
Wie weit diese Freiheit (gegenüber dem gesellschaftlich Nützlichen)
heute schon selbstverständlich geht, zeigt Christian Schröders
Artikel über Tarantinos „Kill Bill": der Film ist eine
Orgie in Gewalt und Schönheit ... Köpfe und Gliedmaßen
werden gleich im Dutzend abgeschlagen, das Blut sprudelt in hohen Fontänen,
die Kämpfer tanzen, springen, schlagen Salti wie in einem Fred-Astaire-Musical.(8)
- Witzigerweise heißt er: „Triumph des Killens", was
ja an Leni Riefenstahls „Triumph des Willens" erinnert. Auch
Filme wie Mel Gibsons „Die Passion Christi", in dem man zwei
Stunden lang nichts anderes sieht als Folterszenen bei der Kreuzigung,
oder Christoph Schlingensiefs „Ausländer raus", in dem
abschiebebereite Asylsuchende in Stahlcontainern auf dem Wiener Burgplatz
ausgestellt wurden, demonstrieren eindrucksvoll, dass die Kunst sich laufend
heiklen Themen annimmt und diese auf höchst eigenwillige, subjektive
Art und Weise aufgreift, ästhetisiert und repräsentiert. Möglicherweise
halten wir das nur aus, gerade weil sie ihre Themen ohne vordergründige
Zwecksetzung präsentiert; also eben nicht erwartet, dass an ihr die
Welt genesen soll. (Mel Gibbson mochte das womöglich anders sehen,
aber sein Film lief ja zum Glück auch bloß eine Woche lang
in den deutschen Kinos) Und vielleicht können wir uns vielen Dingen
überhaupt nur in dieser Weise aussetzen und uns mit ihnen konfrontieren,
indem wir sie ästhetisiert zu uns nehmen, oder, da das Wörtchen
„Ästhetik", so sehr an „Eleganz", „Manierismus"
erinnert, sagen wir besser: verkunstet, das klingt weniger geschraubt
und etwas profaner.
Eichingers in der Presse vielzitierter „Tabubruch" besteht
weniger darin, Hitler als Menschen zu zeigen (denn das wäre mit dem
pädagogischen Imperativ noch vereinbar und ist seit Hannah Arendts
„Eichmann in Jerusalem" eigentlich auch längst bekannt),
sondern vielmehr darin, den Stoff überhaupt als Kunst aufzuarbeiten.
Die künstlerische Verarbeitung eines Themas setzt eine gewisse Souveränität
und Unabhängigkeit voraus. Wer an einem Thema noch zu kauen hat,
ist für eine Umsetzung nach den Regeln der Kunst zu befangen. Er
muss sich erst noch klar darüber werden, wie genau er zu dem Problem
steht und eine eigene Binnenlogik entwickeln, Max Weber würde sagen:
eine eigene Rationalität, aus der heraus er kreativ schöpfen
kann. Erst wenn er die Sache wirklich durchdacht hat und sie geistig gut
durchgeknetet ist, kann er mit ihr frei spielen. Solange er sich jedoch
über seine Beziehung zum Objekt noch selbst klar werden muss, ist
er für die feste Kontemplation, wie Schopenhauer sie nennt, nicht
reif. Er kann sich der künstlerischen Gestaltung seines Stoffes nicht
rückhaltlos überlassen. Ein Teil seines Verstandes hält
ihn ständig zurück, weil er sich und seiner Sache nicht traut
und sich seines eigenen Verhältnisses zu ihr nicht sicher genug ist.
Bernd Eichinger sagt: Ich mache seit 30 Jahren Filme, und so lange befasse
ich mich mit totalitären Regimen und deren Gehorsamsmethodik. Mit
diesem Background kann man es sehr wohl -wagen, dem Bösen ein Gesicht
zu geben.(9)
Die „New York Times" schreibt: Dass Hitler Stoff für ein
Stück Massenkultur geworden ist, zeigt, -wie weit es den Deutschen
gelungen ist, ihre Geister zu bannen.(10)
Und auf Hendryk M. Broder wirkt unsere ständige, eifrige Aufarbeitung
der Vergangenheit schon lange leicht neurotisch: Die Erkenntnis können
sie sich schenken, weil die Erkenntnis lautet: So was macht man nicht.(11)
Ich fasse zusammen: die Produktion von Kunstwerken über die Nazigeschichte
gehört selber nicht zur Aufarbeitung der Geschichte, sondern setzt
diese als bereits abgeschlossen und gelungen voraus. So herum betrachtet,
wäre es ein Zeichen von Reife der Kultur, wenn der Film geglückt
wäre - wir werden gleich sehen, ob er das ist.
Zweitens: wenn es gelingt, den „Untergang"-Film komplett zu
rekonstruieren und dabei alle historisch relevanten Tatsachen und Personen
zu eliminieren, quasi als ob die Geschichte auch mit völlig fiktiven
Personen auf dem Mars spielen könnte, dann wäre damit bewiesen,
dass die Figur Hitler ihre bedrückende Präsenz verloren hat
und zusammen mit Nero, Maria Smart und Napoleon endlich in den Fundus
der zeitlosen Themen eingegangen ist. Die Amerikaner setzen in ihren Actionfilmen
die Nazi-Figuren schon lange sorgloser ein: als schaurigfaszinierende
Mythengestalten, angesiedelt zwischen seelenlosen Roboterarmeen mit beachtlicher
technischer Ausstattung, in denen der Einzelne nichts ist, und mysteriösen
Gralssuchern, die nach überirdischen Mächten fahnden - stets
freilich mit einem destruktiven Hass auf alles Lebendige. So in etwa das
Strickmuster. Als H.G. Wells 1936 mit seinem berühmten Hörspiel
„Krieg der Welten" eine Hysterie auslöste, weil die Zuhörer
dachten, die Marsianer kämen jetzt wirklich, hielten nicht wenige
sie für getarnte Nazis.(12) In phantastische Comicmetaphern Hollywoods
übersetzt, sieht das dann so aus, dass die Nazis ein reales Tor zur
Hölle öffnen, um den leibhaftigen Teufel als Verbündeten
zu holen („Hellboy") oder nach der Bundeslade mit Moses Steintafeln
graben, um ihre magische Wirkung als Geheimwaffe einzusetzen („Jäger
des verlorenen Schatzes"). Vermutlich wird hier vor der historischen
Situation kurz vorm Ende des zweiten Weltkriegs abstrahiert, als die Amerikaner
fürchteten, Hitler könne bereits die Atombombe haben. Dies an
dieser Stelle nur als Hinweis, wie weit die Nazis als Metapher schon längst
in die Comic- und Hollywood-Welt eingesickert sind und dort spielerisch
behandelt werden.
Die Binnenlogik der dramaturgischen Konstruktion. - Wenn ich so ansetze,
kann ich die Elemente des Films nicht mehr als historische Tatsachen begreifen,
über die informiert werden soll, sondern muss sie logischerweise
als Elemente der dramaturgischen Konstruktion betrachten, die vornehmlich
dem Selbstzweck des Kunstwerks dienen, der lautet: ein Kunstwerk zu sein!
Nach Lajos Egris „Lehrbuch des dramatischen Schreibens" sind
für ein spannendes Drama drei Zutaten nötig: die Charaktere,
der Konflikt und die Prämisse.(13) Egris ist der Ansicht, dass sich
ein Stück fast von alleine schriebe, wenn man die richtigen Zutaten
beieinander hat. Die Charaktere müssen entschlossen sein und brauchen
starke Motive, warum sie ihre Handlungsziele verfolgen; die Konflikte
entstehen fast automatisch aus diesem Gegeneinander der unterschiedlichen
Ziele und Handlungen. Damit die Spannung steigt, müssen sie sich
freilich immer mehr zuspitzen, bis zum Finale, das entweder heitere Auflösung
(Komödie) oder Katastrophe (Tragödie) bedeutet. Die Prämisse
schließlich ist sozusagen die leitende Idee, die das Stück
durch seinen ganzen Verlauf zum Ausdruck bringt. Egri nennt als Beispiele:
Liebe ist stärker als der Tod, für „Romeo und Julia",
oder: Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein, für
Molieres „Tartuffe". Das nur soweit, damit wir ein Bild bekommen,
was Egri mit dem Begriff der „Prämisse" meint.
Ein völlig unwissender, historisch ungebildeter Zuschauer (den es
in unserer Gesellschaft so freilich nicht gibt) sähe den Film wie
irgendein Shakespeare-Stück. Nach Egris allgemeinen Schema könnte
man ihn so beschreiben: Zuerst hatte Hitler eine Vision, dann rührte
er Krieg gegen die Welt, dann wurde er in die Ecke gedrängt, dann
brachte er sich um. Er ist fest entschlossen, das ganze Land mit sich
in den Abgrund zu reissen.
Traudl Junge bringt die innere Logik seiner Situation auf einen Punkt:
Hitler wußte, daß die Russen ihn töten -werden, also
ließ er die Menschen kämpfen bis zum Letzten; nur sie hatten
was zu verlieren, er nicht mehr.(14) - Wenn man soweit über die Logik
der Situation informiert ist, erscheinen alle weitere Handlungen Hitlers
entweder vollständig von diesem Programm determiniert oder eben wahnsinnig.
Eine autonome Figur im Sinne eines Theaterstücks ist er nicht mehr,
sein Handeln wirkt auf den Betrachter zu hundert Prozent berechenbar.
An dieser Stelle ein kleiner Exkurs zu der Frage: „War Hitler ein
Mensch oder war er ein Monster?" - Hierbei handelt es sich um eine
typische Hollywoodunterscheidung, die etwa aus Disneys „Glöckner
von Notre Dame" oder Steven Spielbergs Kitsch-Fiction „A.I."
stammen könnte.(15) Nüchtern und ohne falschen Pathos betrachtet,
schließen beide Merkmale einander keineswegs aus: das Spektrum des
Menschen als einem, wie Friedrich Nietzsche ihn nannte, nicht-festgestelltem
Tier, umfasst einsame Genies und Volltrottel; Heilige und Volkshelden,
Verbrecher und gefährliche Wahnsinnige. Wir müssen uns die Gattung
„Mensch" in jeder Hinsicht vielgestaltig vorstellen, dann kommen
wir nicht zu dieser irreführende Alternative. Die Bezeichnung „Mensch"
allein ist ja noch kein Lob; ein Delphin würde protestieren. Denn
natürlich kann niemand ernsthaft bestreiten, dass Hitler biologisch
ein menschliches Wesen war. Doch lässt sich daraus noch lange nicht
folgern, dass er auch „menschlich" in einem humanistisch wertvollen
Sinn war; nur wenn wir der Gattung „Mensch" prinzipiell auch
das Potential zum Monster zutrauen, können wir Hitler als einen Menschen
betrachten, ohne ihn damit automatisch zu verklären.
Der Schauspieler Bruno Ganz wurde für seine einfühlsame und
höchst authentische Darstellung mehrfach gelobt,16 und möglicherweise
hat er Hitler wirklich gut getroffen; allerdings sehen wir den Führer
vor allem Primärbedürfnisse befriedigen, essen und kacken, mit
seinem schmierigen Charme mit seinen Sekretärinnen flirten, Eva Braun
küssen und seinen Schäferhund streicheln, außerdem Wutausbrüche
kriegen und über die sicherste Methode zur Selbsttötung nachdenken.
Mithin ist Hitler nicht nur ein Mensch, sondern sogar ein besonders gewöhnlicher
Mensch. Man hat ein bisschen ein Gefühl wie bei Peter Handkes Publikumsbeschimpfung,
als ob es gezielt darum ginge, sensationelle Erwartungen zu erschüttern:
„Wie bitte? Sie wollen Hitler sehen, sie wollen ein Monster sehen?
Nein, sie werden gar nichts sehen, nur einen gewöhnlichen Menschen
beim Essen und beim Kacken werden sie sehen..."
Der Film erweckt den Eindruck, als habe allein seine Aura und sein Charisma
Hitler mächtig gemacht Dass es darüber hinaus noch einen sozialpsychologisch
raffiniert durchorganisierten Apparat aus Befehlsketten, Propaganda und
Einschüchterungsmechanismen gab, kommt in dem Film nicht vor.
Das liegt freilich in der Natur der Sache und ist im Ansatz zum Werk bereits
impliziert: zum ersten durch den gewählten Ausschnitt, insofern Hitler
in den letzten Tagen im Bunker tatsächlich der Machtapparat wegbrach.
Zum zweiten durch die Grenzen und Möglichkeiten des gewählten
Genres, da sich die sozialtechnischen Analysen von Befehlsketten und Macht
nur in einer breiter angelegten Dokumentation, aber nicht in einem Kammerspiel
zeigen lassen. Das Kammerspiel ist eher für die unmittelbaren Interaktionen
zwischen Menschen reserviert, die mikrosozialen Prozesse der Gruppendynamik,
wie es sozialwissenschaftlich heißt.
Die übrigen Personen in seinem finsteren Hofstaat sehen einer Kapitulation
unterschiedlich entgegen, je nachdem wie sehr sie in das System verstrickt
sind oder seine Vision teilen, eher hoffnungsfroh oder ähnlich apokalyptisch
wie der Führer selbst. Das erklärt die unterschiedlichen Strategien
der Leute, die sich entweder abseilen oder in der Nähe des Führers
bleiben, ihm stupide die Treue halten oder, wie Traudl Junge und das andere
Zivilpersonal im Bunker, einfach nur dem Lauf der Dinge harren.
Eine Handvoll Personen bemüht sich um Schadensbegrenzung: zwei Ärzte
kümmern sich draußen um die Verwundeten, sie sind die einzigen
positiven Helden und Sympathieträger in dem Film. Zwar sprechen sich
auch innerhalb des Bunkers hochrangige Offiziere vereinzelt für eine
schnelle Kapitulation aus, damit nicht noch mehr Menschen sterben; doch
gegen Hitlers destruktive Energien haben sie keine Chance. Die Ereignisse
schnurren nur noch ab wie bei einem Uhrwerk.
Für ein Theaterstück wäre es eindeutig zu dünn, wenn
die Aktionen der Akteure für den Verlauf der Ereignisse fast egal
sind. In anderen Kammerspielen, zum Beispiel: „Die zwölf Geschworenen"
oder: „Thirteen days", wird viel mehr gehandelt. Indem verschiedene
Personen durch ihr Gegeneinander Konflikte produzieren, treiben sie den
Gang und die Entwicklung der Ereignisse vorwärts, ihr Handeln ist
gleichsam der Stoff, aus dem die Geschichte gewoben wird. Das ist im „Untergang"-Film
nicht der Fall: die Konflikte haben eigentlich nur eine ornamentale, schmückende
Funktion. Weil der Zuschauer den Schluss kennt, kann er wie beim Untergang
der „Titanic" mit dem Countdown rückwärts zahlen:
die Russen sind in Marzahn, die Russen sind in Lichtenberg, sie sind an
der Friedrichsstraße... bekommt er in regelmäßigen Abständen
durchgesagt wie eine verbleibende Flugzeit bis zum Ziel. Er kann seine
gesammelte Aufmerksamkeit auf die psychischen Reaktionen der Leute legen:
werden sie die Nerven verlieren oder bleiben sie eisenhart bis zum Schluss?
Für einen reinen Katastrophenfilm wie „Erdbeben" oder
„Flammendes Inferno" fallen allerdings viel zu wenige Kronleuchter
von der Decke.
Man muss fragen, woher der Film eigentlich seinen Reiz bezieht? - zu einem
gewissen Teil sicher aus dem Vergnügen, die obersten Naziverbrecher
wie die Ratten bei einem Laborversuch der Stressforschung in einem engen
Käfig zappeln zu sehen.(17) Mit einem ähnlichen Vergnügen
wandern englische und amerikanische Touristen regelmäßig die
Berliner Wilhelmstraße ab, um zu sehen, auf welche winzige Fläche
ihre Väter und Großväter das einst so riesige Reich kleingekämpft
hatten.(18) - warum sollten wir Deutsche es uns nicht gönnen, wer
hat sich nicht schon gewünscht, den Scheißnazis beim Verrecken
zusehen zu dürfen? Die Filmstudios werden ja nicht umsonst als „Traumfabriken"
bezeichnet: sie produzieren Träume in einem perfekt freudianischen
Sinne, Angstträume, Lustträume, Wunschträume...
Der unwissende, nicht vorgebildete Zuschauer fragt: „Wie sind die
Nazis in diese aussichtslose Lage gekommen, warum stehen sie so in die
Ecke gedrängt?" - Antwort: Weil sie erbitterten Krieg gegen
die gesamte Welt führten, sie haben von ihren Gegnern nicht das geringste
Gramm Mitleid zu erwarten. Sie sind die gefallenen Tyrannen, deren Gewalt
sich am Ende gegen sie selber richtet und vernichtet.
Doch der unwissende, nicht vorgebildete Zuschauer gibt sich mit dieser
Antwort noch nicht zufrieden: „Ja, aber warum haben sie denn Krieg
gegen die ganze Welt geführt?" fragt er weiter. - die Antwort
lautet: weil sie die Weltherrschaft wollten. Ziemlich zu Beginn des Films
sieht man Hitler zusammen mit Albert Speer vor einem Modell der Stadt
Berlin, wie sie nach dem Endsieg in neuer Triumph-Architektur aufgebaut
werden soll. Hitler spricht andächtig von „Unserer herrlichen
Vision"; sie wird inhaltlich nicht weiter gefüllt. Die Vision
wird mehrmals zitiert, aber nie konkretisiert. Mithin scheint sie eine
rein dramaturgische Funktion zu haben, nämlich den Fanatismus der
handelnden Charaktere in diesem Kammerspiel zu erklären. Der Grund
der Akteure für ihren Krieg gegen die Welt ist im Film: „die
Vision", die immer wieder bloß erwähnt, aber nie ausgeführt
wird. Sie ist ein McGuffin. Ähnlich wie in den Alfred Hitchcock-Filmen:
ein beliebiger Aufhänger, damit die Spione und Verbrecher einen Anlass
für ihre Verfolgungsjagd haben.
Alfred Hitchcock erklärt selber, was er unter einem „McGuffin"
versteht: In der Geschichte („Der unsichtbare Dritte") geht
es um die Frage: Was suchen die Spione? In der Szene auf dem Flugfeld
von Chicago erklärt der CIA-Mann Cary Grant alles. Der fragt dann
im Hinblick auf James Mason: „ Und was macht der? " Darauf
antwortet der andere: „Sagen wir Import-Export." „Ja,
aber was verkauft er denn? " „Na, eben Regierungsgeheimnisse."
Sehen Sie, da haben wir den McGuffin, reduziert auf seinen reinsten Ausdruck:
(19) - die Geheimformel, die überbracht werden muss, der Unschuldige,
der seine Unschuld beweisen muss, der Krieg, der auf jeden Fall gewonnen
werden muss.
Für die Funktion eines Hitchcock-Füms wie für die Funktion
des „Untergangs" ist die genaue Definition und inhaltliche
Gestaltung des McGuffins egal, solange nur die Motivation, Entschlossenheit
und Panik der Akteure aus ihm glaubhaft folgen. Diese spezifische Ignoranz
gegenüber der Ideologie entspricht durchaus der pädagogischen
Haltung, die sich ja ebenfalls auf Diskussionen über Rasselehren
im Detail nicht einlässt, sondern die Angelegenheit eher sozialpsychologisch
behandeln will. Auf der anderen Seite käme für Hitlers „Vision"
fast alles in Frage; die Eroberung der Weltherrschaft ebenso gut wie die
Besiedelung des Mondes, die Errichtung einer Unterwasserstadt oder die
atomare Verstrahlung des Geldvorrats in Fort Knox - auf dieser Ebene vergleichbar
mit den durchgeknallten Zielen der „007"-Gegner in ihrem futuristisch-apocalyptischen
Soziotop.
Die Prämisse des Films lautet mithin: Wer Krieg gegen die ganze Welt
führt, wird am Ende selber getötet. - Das ist natürlich
wahr und eine gute Prämisse. Sie hat die Eigenschaft, wie alle Prämissen,
von ihren konkreten Umständen isoliert und auch auf andere Situationen
übertragbar zu sein. Man muss sie nicht zwangsläufig am Beispiel
Hitlers präsentieren, man könnte sie genauso gut in einem Stück
über Kaiser Nero, Andreas Baader oder einen autoritären Familienvater
entfalten. In Thomas Vinterbergs „Das Fest" ist das zum Beispiel
der Fall, oder in Molieres „Tartuffe".
Der Ökologe und Sozialwissenschaftler Gregory Bateson prägte
den Satz: Ein Lebewesen, das seine Umwelt zerstört, zerstört
sich selbst.(20) Die Hitler-Geschichte wird zur Allegorie auf diktatorisches
Verhalten überhaupt: eine Autorität im Alleingang gegen alle
anderen muss fallen, egal wie mächtig sie zuerst auch noch scheinen
mag. Sie untergräbt ihre eigene Macht durch ihre selbsterzeugte Isolation.
Hannah Arendt spricht vom selbstzerstörerischen Element, das dem
Sieg der Gewalt über die Macht innewohnt.(21) - Im Unterschied zur
Gewalt lässt sich Macht im Alleingang nicht durchsetzen, da sie prinzipiell
auf Interaktion mit der Umgebung basiert.
Die Autorität wird nicht in den Ruhestand, sondern in die Wüste
geschickte. (22) - Wenn sie anfängt, ihre Untergebenen zu missbrauchen,
ruiniert sie ihre eigene Basis. So ist auch ein Diktator auf seine Umwelt
und die anderen Personen angewiesen. Sein Ende liegt somit in seinem Wesen
besiegelt, alles nur eine Frage der Zeit. Die einsame, autoritäre
Macht, die schließlich in Gewalt umschlägt, trägt den
Keim ihres Scheiterns bereits in sich; der Produzent muss ihn lediglich
heraus präparieren, um seinem Publikum die Notwendigkeit des Prinzip
vorzuführen. Und am Ende prasselt es Tote wie in einem Shakespeare-Stück.
Darüber hinaus greift der Film einen noch allgemeineren Archetypus
auf, nämlich das Bild des „Einstürzenden Turms".
Seine älteste Variante ist vielleicht der Turmbau zu Babel, die Tarotkünstlerin
Rächet Pollack verknüpft das Symbol mit Politik, Technik, Ökologie,
Psychologie: Der Turm kann auch eine heftige Freisetzung unterdrückter
Energien bedeuten. Wenn eine unerträgliche Lage lange Zeit anhält,
wird sich der Druck zu einer gefährlichen Sprengkraft aufstauen.
Übertragen auf die Psyche eines Menschen, kann die Folge ein Wutausbruch
sein; eine politische Situation langer Unterdrückung hat möglicherweise
eine Revolution zur Folge; öderes treten ökologische Katastrophen
ein, die durch jahrelange Vergwaltigung der Natur verursacht sind.(23)
Die vergiftete Faszination. Ich habe versucht, den „Untergang"-Film
auf einer verallgemeinerten Ebene zu rekonstruieren. Seine wesentlichen
Elemente (Charaktere, Konflikte und die Prämisse) lassen sich soweit
abstrakt und gelöst vom realen Kontext fassen, dass man ihn sich
rein theoretisch auch ohne Hitler und Goebbels, als eine rein fiktive
Geschichte mit fiktiven Figuren vorstellen könnte. Dies entspricht
den beiden zentralen Prinzipien eines Kunstwerks, wie ich sie oben kurz
skizziert habe: Isolation und Ästhetisierung.
Gleichwohl, und das muss nicht weiter erklärt werden, können
wir den „Untergang" nicht mit jener unbefangenen Angstlust
betrachten, mit der wir den „Untergang Trojas" oder den „Untergang
der Titanic" verfolgen. Das muss auch Bernd Eichinger klar gewesen
sein, der die Ereignisse im Bunker in brutale Kriegsbilder außerhalb
des Bunkers einrahmt. Diese Szenen sind eindeutig und scharf im Stil der
klassischen Antikriegsfilme gedreht, sie schreien allesamt: „Schluss
mit dem Volkssturm! Schluss mit dem Krieg!" Eichinger erklärt,
dass die Ereignisse im Bunker natürlich mit den andauernden Kriegshandlungen
draußen in Beziehung stehen müssen, weil sonst ein Eindruck
von Kasperltheater(24) entstehen würde. Man würde womöglich
Hitlers Wutausbrüche und sein visionäres Getue für eine
irre Performance oder Slapstick halten. Bei einem Essen mit Gästen
erklärt er feierlich seine Philosophie.' „ Was für den
Affen gilt, muss doch in erhöhtem Maße für den Menschen
gelten!" - Traudl Junge und das übrige Zivilpersonal gucken
eigenartig berührt vom Teller auf, „Uppps!" scheinen ihre
Blicke zu sagen. - Das wäre komisch, ein guter Gag, hätte Hitler
nicht mit solchen Gedanken halb Europa in Schutt und Asche gelegt...
Die beiden Erzählebenen (im Bunker: grotesker Untergang; draußen:
blutiger Krieg) durchdringen einander nicht wirklich, ihre Beziehung ist
eher atmosphärisch. Etwa in der videoclipartigen Passage, da man
Eva Brauns Stimme aus dem Off beim Verfassen ihres betulichen, kleinkarierten
Testaments sprechen hört, dazu musizieren traurige Geigen, man sieht
eine Collage grausamster Kriegsszenen: unter anderem ein halbwüchsiges
Mädchen im Volkssturm, das sich euphorisch beim Hitlergruß
abknallen lässt. Dieses kontrastiert sonderbar mit dem teils weltfremden,
teils absurden oder hilflosen Verhalten der Personen im Bunker. Auch wenn
es den historischen Tatsachen entspricht, ergibt sich doch für die
emotionale Botschaft des Films ein Gemisch, das sich mit Begriffen wie
zynisch, sarkastisch, ironisch, grotesk oder fatalistisch nur unzureichend
fassen lässt.
Bernd Eichinger spricht in Interviews mehrfach von der „Faszination",
die vom Ende des Regimes auf ihn ausgegangen sei; und tatsächlich
scheint der Film über weite Strecken diese Faszination wiederzugeben
- und zugleich davor zu warnen, sich ihr hinzugeben. Er will einerseits
faszinieren und andrerseits präsent halten, dass es sich hierbei
um keinen bloßen Spaß oder um Unterhaltung gar handelt. In
der Regel wird den Darstellungen eine bittere Substanz beigemischt, die
einen unreflektierten Konsum verhindern soll. Die Faszination, die der
Film vermittelt, ist bis in die Fasern hinein vergiftet, damit kein Nazifan
sich unkritisch von ihr anregen lässt. (Praktisch klappt das freilich
nicht immer, denn dass sich Menschen auch mit offensichtlich selbstzerstörerischen
Idolen identifizieren, ist ja bekannt.)
Die emotionale Botschaft erscheint mithin paradox. Es ist ja schon ungewöhnlich,
wenn das Publikum eines Films darauf hinfiebert, die Protagonisten mögen
sich bitte bald eine Kugel durchs Hirn blasen. Andererseits gehört
das Paradoxe auch zum Wesen der Kunst: die Kunst besteht hier darin, das
Paradox in den Details nachvollziehbar zu entfalten. Der Teufel steckt
nicht im Detail: Während die Konzeption im Großen und Ganzen
unpassend und missglückt scheinen mag, ist sie in einzelnen Bildern
mitunter ausgezeichnet gelungen.
Die Stärke des Films liegt sicher nicht im Erzählen einer Geschichte.
Indes verfügte er über einige hervorragend gelungene, sehr intensive
Bilder, die an die preisgekrönten Arbeiten von Bildjoumalisten aus
Krisengebieten erinnern: sie haben einerseits eine eindeutig dokumentarische
Funktion, insofern sie reale Ereignisse nachstellen, sind jedoch andererseits
in Komposition, Perspektive, Kulissen, Belichtung... ästhetisch wohlgestaltet,
und sie drücken den spezifischen Charakter, die Atmosphäre der
Situation in besonderer Intensität aus. Insofern sind sie wie künstlerische
Gemälde. Hier ein paar Beispiele:
- Hitler tritt in einen Saal vor seine Offiziere, die einen Halbkreis
um ihn bilden und ihn zackig mit dem Hitlergruß empfangen. Die Kamera
filmt ihn von hinten, guckt über seine Schultern, er hebt ebenfalls
die Hand zum Gruß. Schnitt! Aus den Fenstern eines mehrstöckigen
Gebäudes regnet es weiße Papiere wie bei der berühmten
New Yorker Konfettiparade nur handelt es sich hier um Aktenblätter,
die vor Ankunft der Alliierten noch schnell verbrand werden sollen.
- Erregendes Hauptquartier-Gewusel: schwarze Benz-Limousinen rauschen
herein und heraus, glitzernde Uniformen aus Lack und Leder, die dynamische
Choreographie von Personen, deren Handlungen allesamt glatt ineinander
zu greifen scheinen, ähnlich wie im Lager des Oberschurken, in den
„007"-Filmen. Es ist das einzige Mal, dass diese spezifische
Ästhetik benutzt wird. Beim zweiten Hinsehen erkennt der Zuschauer,
dass sich die obersten Offiziere auf einer feigen Flucht befinden; Himmler
überlegt, wie er sich bei Eisenhower anbiedern kann, dann nimmt er
die Beine in die Hand. Zum Finale: eine Fanfare aus Selbstmorden. Das
Prinzip der vergifteten Faszination zeigt sich nochmal im Höhepunkt
des Films, der aus einer Serie von Selbsttötungen besteht.
- als erstes scheiden Hitler und Eva Braun aus dem Leben, zuvor verabschieden
sie sich von ihren Vertrauten durch Händedruck. Es macht einen schäbigen
Eindruck, wie er sich aus der Verantwortung stiehlt. Er hat sich in sein
Zimmer zurückgezogen, ein Soldat hält Wache, da will Magda Goebbels
unbedingt nochmal zu ihm, sie fleht den Soldaten an. Der klopft, Hitler
verärgert, barsch: „Was gibt's denn noch?", der Soldat:
„Entschuldigen Sie, Frau Goebbels möchte sie unbedingt noch
einmal sprechen." Er öffnet wieder die Tür, sie fällt
Hitler buchstäblich um den Hals. Er guckt komisch in seiner Intimsphäre
berührt, als hätte sie ihn auf dem Klo sitzend überrascht.
- Die Offiziere schaffen ihre Leichen raus wie nervöse Verbrecher,
die rasch ihre Spuren verwischen müssen. Sie salutieren vor ihren
brennenden Leichen, man sieht das Flackern des gelben und roten Lichts
auf ihren hageren Gesichtern, bis sie nach wenigen Sekunden von einem
Bombenangriff wieder nach drinnen gejagt werden.
- Danach tötet Frau Goebbels ihre sechs Kinder wie bei einem Ritual:
sie schiebt ihren schlafenden Kindern der Reihe nach eine Zyankalikapsel
zwischen die Zähne, legt die eine Hand auf ihre Stirn und gibt mit
der anderen Hand einen Stoß gegen das Kinn, so dass die Kapsel zerbissen
wird, dann zieht sie ihnen die Bettdecke über das Gesicht. Das alles
erledigt sie pflichtbewusst und routiniert wie eine Mutter, die ihren
Kindern der Reihe nach Schal und Mütze anzieht. Man sieht, wie sie
dafür Impulse des Mitleids unterdrücken muss, während sie
subjektiv meint, nur das Beste zu wollen. Sechsmal in Nahaufnahme ein
schlafenden Kindergesicht, das sich nur durch kurzes Aufhusten und eine
geringe Veränderung in Ausdruck und Haltung in ein totes Gesicht
verwandelt.
- Danach gehen Magda und Joseph Goebbels vor die Tür, wo er zunächst
sie, dann sich selber erschießt, stramm und konsequent, als ziehe
er nur die logische Schlussfolgerung aus einer nüchtern analysierten
Situation. Kurz bevor er abdrückt, steht Goebbels da, die Schultern
zurückgezogen, die steife Uniformjacke um die Taille eng geschnitten,
als eine Karikatur auf jene drahtige Haltung, die einst auf seine Anhänger
so irrsnnig smart und ultracool wirkte.
- Danach sind die obersten Anführer tot. Wie ein Echo folgen weitere
Selbsttötungen von weniger wichtigen Nazis, die pflichteifrig und
rasch ihren Führern folgen wollen oder sich einfach nur kein Leben
nach dem Krieg vorstellen können, und sich ruckzuck noch schnell
eine Kugel durch den Kopf pusten. Wie bei einem „Running Gag"
hört man im Hintergrund immer wieder Schüsse und sieht am Bildrand
Gehirne gegen die Wand klatschen.
Offensichtlich haben sämtliche Selbstmordszenen innerhalb des Bunkers
einen deutlichen Touch von schwarzer Komik, man spürt sogar Schadenfreude,
schließlich haben sie ihren Tod verdient, während die Kriegstoten
außerhalb des Bunkers ja einen anklagenden und klaren pazifistischen
Appell transportieren. Allein der Mord an den sechs Goebbels Kindern ist
sozusagen ästhetisch rein. Diese Szene wurde in mehreren Zeitungen
als „Höhepunkt" des Films gelobt.(25) Alle übrigen
Elemente des Films scheinen auf diese Szene hinzustreben, so als ob sich
in ihr die eigentliche Idee des Werks entfaltete. Tatsächlich funktioniert
sie vor allem als Scharnier, das die beiden parallel laufenden Erzählebenen
zusammenhält. Man schneide die Szene raus, und der Film würde
wieder in zwei Filme zerfallen: klassische Antikriegsagitation und Kasperltheater.
Die Kinder zählen formal zwar zur Täterseite, sind praktisch
aber völlig unschuldig. Mithin erscheint ihr Tod weder mit dem bizarrer
Sarkasmus der übrigen Bunkerszenen noch im anklagenden und empörenden
Stil der Kriegsszenen draußen. Vielmehr vermittelt diese Szene in
einer hochkonzentrierten Form und sehr abstrakt nocheinmal die wesentlichen
Merkmale der Diktatur: wahnsinnigen Fanatismus, Disziplin und das Fehlen
von Mitleid, eine Totalität, die alle Personen erfässt, sowie
die mechanisch lautlose Technik der Vollstreckung und eine kalte, anti-humane
Eleganz. Sie erinnert von der Machart ein bißchen an die Szene in
Stanley Kubricks „2001", da der Bordcomputer HAL 9000 die drei
schlafenden Astronauten ermordet. Allerdings verfügt „2001"
über viele solcher Szenen, angefangen von der Verwandlung des Knochens
in ein Raumschiff bis zum psychedelischen Trip am Schluss, wo sich eiskalte
Ästhetik, Zynismus, Rätsel und Schaudern mischen, während
der „Untergang" eben nur eine einzige Szene von dieser Sorte
kennt.
Zusammenfassung und abschließendes Urteil. Was also ist insgesamt
von diesem Werk zu halten? - es fällt schwer, die Frage einfach und
endgültig zu beantworten. Vor allem zeigt sich in der Auseinandersetzung,
dass der ausschließlich künstlerische Blick auf den Film nur
mit großer Mühe durchzuhalten ist. Fast zwangsläufig rücken
die Gedanken immer wieder davon ab, zumal der Film ja auch keinen reinen
Genuss darstellt. Ich habe ihn jetzt zweimal gesehen und bin beidemale
ziemlich erledigt aus dem Kino rausgekommen. Ein drittes mal werde ich
ihn mir, glaube ich, nicht ansehen. Nun darf Kunst natürlich auch
eine Zumutung sein, doch bei diesem Film ist es schwierig, den Grund dafür
zu entdecken; die Verstörung zu erklären.
Insgesamt betrachtet mag der Film zahlreiche Intentionen verfolgen, womöglich
sogar zuviele auf einmal: er will spannend und actiongeladen sein, er
will historisch exakt und informativ sein, er will den Blick auf die Persönlichkeiten
der obersten Nazi-Elite lenken, und gleichzeitig will er sie anklagen
und ein Antikriegsfilm sein ... das alles auf einmal, das muss man erstmal
unter einen Hut bekommen ... und dann will er außerdem noch ein
Kunstwerk sein und inszeniert als seinen Höhepunkt den Mord an den
sechs Goebbelskindern als einzige rein ästhetische Stelle.
Vielleicht urteilt Andreas Borcholt so hart: Zuviel an dem Film funktioniert
nicht.(26) - Ich würde hingegen sagen: bei sovielen einander widersprechenden
Ansprüchen und einem dermaßen verqueren Konzept ist es allerdings
bereits eine Leistung, dass der Film nicht komplett daneben gegangen ist.
Für Cineasten sind solche Filme immer interessant, bei denen man
sich fragt: geht das oder geht das nicht? - In diesem Sinne ließe
sich auch der „Untergang" als ein konzeptionelles Experiment
betrachten, etwa mit der Ausgangsfrage: lässt sich ein faszinierender
Thriller drehen, der den Anlass seiner eigenen Faszination negiert? -
oder: lassen sich zwei parallel laufende Intentionen in einer künstlerischen
Schlüsselszene kumulieren? - oder auch: wie empathisch lassen sich
Figuren darstellen, mit denen in letzter Konsequenz sich niemand identifizieren
möchte? - unter all diesen Aspekten lässt sich der Film betrachten
und wie bei einer Stilstudie oder einem Lehrstück quasi künstlerisch,
heuristischer Gewinn aus ihm ziehen.
So gesehen zählt der Film maximal zu einer fiktiven Null-Serie, denn
wenn sich überhaupt etwas klares und eindeutiges aus all den Reflexionen
extraieren lässt, dann dass Hitler und die Nazi-Zeit (zumindest in
Deutschland) eben noch lange, lange, lange keinen Stoff für reines
Kunst- oder Spannungskino abgegen.
1. Matthias Kalle, Michael Meyns: On the day the nazi died,
in: Zitty 20/2004, Berlin, S. 42
2. Theodor W. Adorno: Philosophische Terminologie, Band I, Ffm, 1973.
3. Hannah Arendt; Eichmann in Jerusalem, München: Piper, 1986, S.
403
4. Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit, Ffm: Suhrkamp, 1971,
S. 90
5. Michael Pothast: Die eigentlich metaphysische Tätigkeit, Ffm,
1982.
6. Arthur Schopenhauer Die Welt als Wille und Vorstellung, Band I, Köln:
Könemann, 1997, S. 271
7. Hermann Pfütze: Form, Ursprung und Gegenwart der Kunst, Ffm: Suhrkamp,
1999, S. 320
8. Christian Scbröder: Triumph des Killens, in: Der Tagesspiegel
vom 14.10.2003, Berlin, S. 25
9. Bernd Eichinger, zitiert im Stern 39/2004, Hamburg, S. 61
10. Die New York Times, zit. In: Lars-Olav Beyer, Ruth Reichstem: Dicker
als Fondue, in: der Spiegel 40/2004, Hamburg. S. 158
11. Henryk M. Broder, zitiert im Stern 39/2004, Hamburg, S. 64
12. vergl. Helmut Lück: Einführung in die Psychologie Sozialer
Prozesse, Hagen, 2000, S. 14
13. Lajos Egri: Dramatisches Schreibens. Theater-Film - Roman, Berlin,
1946, 1960,2003.
14. Traudl Junge, zit. In: Im Toten Winkel, BR. Oktober, 2004.
15. Vergl. Steven Shapiro: Doom Patrols. Streifzüge durch die Postmoderne,
Mannheim., 1997, S. 26 f.
16. z.B. Bert Rebhandl: Das Experiment, in: Berliner Zeitung Nr. 217,16.09.2004,
S. 3
17. vergl. John Calhoun, in: Jürgen Schulz-Gambard: Crowding. Dichte
und Enge in der psychologischen Forschung, Hagen, 1985, S. 16 ff.
18. Henning Sussebach: Gras drüber, in: Die Zeit, vom 16.09.2004,
Hamburg, S. 67
19. in: F. Truffaut, ders.: Mr. Hitchcock, wie haben sie das gemacht?
München: Heyne, 1966,1973, S. 127
20. Gregory Bateson: Ökologie des Geistes, Pfm, 1982.
21. Hannah Arendt: Macht und Gewalt, München: Piper, 1969,1970, S.
56
22. Wolfgang Sofsky, Rainer Paris: Figurationen sozialer Macht, Ffm: Suhrkamp,
1994, S. 156
23. Kachel Pollack: Der Haindl-Tarot, München: Knaur, 1988, S. 195
24. Bernd Eichinger, in einem Interview auf XXP, im Oktober 2004.
25. Vergl. z.B. Peter Michalzik: Dr. Albee oder wie ich lerne, den Bunker
zu lieben, in: Frankfurter Rundschau vom 20.11.2004, Ffm, S. 17 sowie
drei weitere Zeitungen, die ich bei meiner unsystematischen Sammlung gefunden
habe.
26. Andreas Borcholt: Die unerzählbare Geschichte, aus: Der Spiegel-Online,
Oktober 2004.
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