Schon mit 18 Jahren wurde Nazim Hikmet, geboren 1902 in Saloniki,
wegen seiner Gedichte verfolgt, da sie die Gegensätze zwischen
Entrechteten und Aneignern zum Thema hatten. 1920 schloß er
sich dem anatolischen Widerstand an, wurde 1923 Mitglied der illegalen
Kommunistischen Partei der Türkei und studierte von 1922-1925
an der „Universität der Völker des Orients“
in Moskau, wo er auch die Totenwache an Lenins Sarg hielt. Nach
seiner Rückkehr 1925 in die Türkei lebte er in der Illegalität,
mußte wieder in die UdSSR emigrieren und wurde in Abwesenheit
zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. 1928, nach seiner erneuten
Rückkehr in die Heimat, wartete dort Kerker auf ihn.
Nur wenige Jahre lebte er in Freiheit, davon 12 Jahre
im Exil. Die Gefängnisse ruinierten seinen Körper: als
Folge litt er an Krankheiten der Nieren, Augen, des Herzens, der
Leber, an Schlaflosigkeit.
Aufgrund von Pressekampagnen, unter dem Druck von
Intellektuellen wie Picasso, Aragon, Sartre, Neruda, Brecht u.a.,
nach Solidaritätsaktionen in aller Welt und nach Einsatz des
letzten verzweifelten Mittels, das ihm selbst im Kerker geblieben
war: dem Hungerstreik, wurde er 1950 amnestiert. Als er 1951, 49
Jahre alt, dann zum Militär einberufen wurde, verließ
er die Türkei und sah sie nie wieder.
In weiteren Jahren der Emigration engagierte er sich
energisch für den Frieden, erhielt den Lenin-Friedenspreis.
„Kurzum, Genossen / sollte ich heute in Berlin vor Kummer
zugrunde gehn / so kann ich sagen, daß ich als Mensch gelebt
habe." Mit diesen Versen schloß er am 1. September 1961
in Berlin seine "Autobiographie". Ein Jahr später
starb er in Moskau.
Er war der Dichter, dem es gelang, seine eigene Sicht
der Welt auf ein höheres Niveau zu bringen. Er ist ein Klassiker
und Heutiger.
***
Als die Nachricht über seinen Tod kam, war ich
19 Jahre alt und Mitglied der Arbeiterpartei der Türkei. Trauern
konnten wir nicht. Die schwarzen Schwertwolken der Mussolini-Paragraphen
hingen vor unseren Fenstern. Verboten waren seine Gedichte nach
diesen Paragraphen im türkischen Strafgesetzbuch – seit
fast 30 Jahren. Damals.
1965 kam es zu einer Renaissance der türkisch-sowjetischen
Beziehungen. Eine Delegation mit einem beträchtlichen Journalisten-Troß
war in Moskau. Kurz danach veröffentlichte ein links-kemalistisches
Wochenblatt namens YÖN ein paar Hikmet-Gedichte.
Prozesse blieben aus. Weitere Publikationen der Nazim-Hikmet-Lyrik
folgten, meist über Liebe und Sehnsucht. Und in diesen Jahren
erschienen in Sofia die Gesamtwerke Nazims in sieben Bänden.
Verleger machten Ausflüge nach Bulgarien, schmuggelten sie
ein. Hikmet-Bücher überfluteten den Markt. Seine Stücke
wurden aufgeführt, erfuhren einen Publikumsstrom.
Hikmets Verse beeinflußten die 68er mehr als
jede andere revolutionäre Theorie. Denn ihnen wohnt das aktive
alltägliche Geschehen inne, dessen Verlauf sich während
der Lektüre zuspitzt, den Leser begeistert und ihn zur Aktion
bewegt.
Als Hauptelement seiner Lyrik gilt der unerschütterliche
Optimismus, der Blütentraum von einem glücklichen Morgen
für alle. Seine rhythmischen, mehrstimmigen, ich- und welthaltigen
Verse wurden eine Waffe der jungen Rebellen. Sein Werk des ästhetischen
Wortes läßt sich als dialektische Harmonie eines ganzen
Orchesters interpretieren, das seine ganze Person umfaßt:
„Ich, ein Mensch./Ich, der türkische Dichter Nazim Hikmet,
ich/Von Kopf bis Fuß Überzeugung,/Vom Kopf bis Fuß
Kampf, Sehnsucht und Hoffnung.“
Als Sohn einer hochrangigen Familie zur Welt gekommen,
hätte er ein Leben mit allen Annehmlichkeiten führen können.
Er ging aber den Weg des Widerstandes, erfuhr alle Schmerzen, die
je ein Mensch erleben kann. Seine Willenskraft konnte dennoch nicht
gebrochen werden – auch wenn er in einer dunklen Zelle von
der Welt und menschlichen Stimmen isoliert war.
Im Vorwort zu einem seiner Bücher bemerkt er:
„Der Verfasser dieses Buches ist ein einfacher türkischer
Dichter, der stolz darauf ist, sein Hirn, sein Herz und sein ganzes
Leben seinem Volk gewidmet zu haben. Andererseits hat dieser Dichter
die Kämpfe eines jeden Volkes für nationale Unabhängigkeit,
soziale Gerechtigkeit und für Frieden in seinen Gedichten gepriesen,
unabhängig von seinem Namen, seiner geographischen Lage, seiner
Rasse und Nationalität. Er hat stets die Siege dieser Völker
als Siege seines eigenen Volkes, ihre Niederlagen als Niederlagen
seines eigenen Volkes und ihre Freuden und Leiden als Freuden und
Leiden seines eigenen Volkes empfunden.“
Er war ein wahrer Kosmopolit. Noch in den Situationen
schwerer Niederlagen findet er Worte und Bilder, in denen er die
Zukunft beschwört und seinem Vertrauen in die Kraft des Lebens,
der engagierten Vernunft Ausdruck verleiht, in die Kraft jenes Windes,
den Jannis Ritsos in seinem Verszyklus „Die Nachbarschaften
der Welt“ proklamiert:
„Ah beeil dich Majakowski, daß wir diesen
Wind verkünden!
Beeil dich Sikelianos, beeil dich Aragon, beeil dich
Neruda
Beeil dich Nazim Hikmet, daß wir diesen Wind
gemeinsam singen.“*
* „Die Nachbarschaften der Welt“ schrieb
Jannis Ritsos, geboren 1. Mai 1909, Mitkämpfer in der griechischen
Volksbefreiungsbewegung bis 1944 und auf der Seite der Partisanen
während des Bürgerkrieges von 1947 bis 1949, auf den KZ-Inseln
Makronissos, Jaros, Ai-Stratis, wo er bis 1952 inhaftiert war. Deportiert
wurde er auch von der Obristen-Junta zwischen 1967 und 1974 nach
Leros und Samos. In einer Reihe neben Majakowski, Lorca, Neruda,
Hikmet, Brecht, Aragon wird Jannis Ritsos international gewürdigt
– mit dem Ehrentitel „Dichter des Volkes“ ausgezeichnet.
***
»Es gibt keinen zweiten Nazim im Gedicht des
Jahrhunderts« (Pablo Neruda, 1963)
Nazim Hikmet schrieb Gedichte, Erzählungen, Theaterstücke,
Romane, Märchen und Kritiken. Da er die Meinung vertrat, daß
„die neue Epoche eine neue Erzählform brauche“,
wandte er stets von der bis dahin in der türkischen Dichtung
gültigen Diwan-Lyrik (= höfische Lyrik) ab. Er proklamierte
die freie realistische Zeile anstelle des metrischen Verses und
des höfischen Aruz, deren Ursprünge in der persischen
und arabischen Dichtung des Mittelalters lagen.
Die Themen seiner Werke umfassen alle Ebenen des menschlichen
Lebens, sowohl private als auch gesellschaftliche. Seine Verse wurden
in über fünfzig Sprachen übersetzt. Seine wichtigsten
Werke sind:
835 Zeilen (1929), Briefe an Taranta Babu (1935),
Das Epos vom Scheich Bedreddin (1937), Menschenlandschalten (1951),
In jenem Jahr 1941 (1961), War beging Benerji Selbstmord, Das Epos
der nationalen Befreiung, Die Legende einer Liebe -Ferhat ile Schirin,
Der deutsche Faschismus und Rassismus (Essay)...
***
Gerade gegenwärtig manifestieren seine Verse
die Hoffnung auf Brot und Freiheit. Denn sie „beschrieben
den Raum nicht“ betont der britische Autor John Berger in
seinen Tagesnotizen zum 100. Geburtstag Nazim Hikmets in „Frankfurter
Rundschau“ vom 12. Januar 2002, „sie kamen durch ihn
hindurch, sie überquerten Berge. Sie handelten auch vom Tun.
Sie erzählten von Zweifeln, Einsamkeit, Verlust, Trauer, doch
diesen Empfindungen folgten Taten, statt Ersatz für die Tat
zu sein. Raum und Tat gehen einher. Ihre Antithese ist das Gefängnis,
und in türkischen Gefängnissen schrieb Hikmet als politischer
Gefangener sein halbes Lebenswerk. ... Immer haben Gefangene überall
von der großen Flucht geträumt, Hikmets Lyrik aber tat
dies nicht. Seine Lyrik brachte, bevor sie begann, das Gefängnis
als ein kleines Pünktchen auf die Karte der Welt.“
John Berger setzt seine Impressionen aus der fiktiven
Begegnung mit dem großen Dichter seines Jahrhunderts fort:
„Ich möchte dich zu der Zeit befragen,
in der wir heute leben. Vieles, wovon du glaubtest, es geschehe
in der Geschichte, oder glaubtest, sollte darin geschehen, hat sich
als Illusion erwiesen. Der Sozialismus, wie du ihn dir dachtest,
wird nirgendwo gebaut. Der Unternehmenskapitalismus rückt ungehindert
vor - wenngleich zunehmend umstritten und obwohl die Twin Towers
zum Einsturz gebracht wurden. Die überfüllte Welt wird
mit jedem Jahr ärmer. Wo ist heute der blaue Himmel, den du
mit Dino sahst?
Ja, die Hoffnungen, entgegnest du, sind in Fetzen,
doch was ändert das? Gerechtigkeit ist noch immer ein Einwort-Gebet,
wie Ziggy Marley jetzt in deiner Zeit singt. Die ganze Geschichte
dreht sich um Hoffnungen, die genährt, verloren, erneuert werden.
Und mit neuen Hoffnungen kommen neue Theorien. Für die Überfüllten
aber, für diejenigen, die, außer zuweilen Mut und Liebe,
wenig oder nichts haben, läuft das mit der Hoffnung anders.
Dann ist die Hoffnung etwas, worauf man beißen, was man sich
zwischen die Zähne schieben kann. Vergiss das nicht. Sei Realist.
Mit Hoffnung zwischen den Zähnen kommt die Kraft, weiterzumachen,
selbst wenn die Müdigkeit nicht mehr nachlässt, kommt
die Kraft, wenn nötig, nicht im falschen Moment zu schreien,
kommt vor allem die Kraft, nicht zu heulen. Ein Mensch mit Hoffnung
zwischen den Zähnen ist ein Bruder oder eine Schwester der
oder die Respekt gebietet. Die ohne Hoffnung in der wirklichen Welt
sind dazu verurteilt, allein zu sein. Bestenfalls können sie
nur Mitleid darbieten. Und ob diese Hoffnungen zwischen den Zähnen
frisch oder in Fetzen sind, ist kaum ein Unterschied, wenn es darauf
ankommt, die Nächte zu überleben und sich einen neuen
Tag zu denken.“
***
Nazim gilt in weiten Kreisen der türkischen Gesellschaft
als der größte Meister der türkischen Lyrik. Unbestreitbar:
Er ist einer der Dichter des 20. Jahrhunderts von Weltrang.
Seine antisemitisch-rassistisch, islamistisch-gottgefällig
gesinnten Neider und Erzfeinde hören nicht auf, ihn zu beschmutzen.
Vaterlandsverrat werfen sie ihm vor. Um das aufrechtzuerhalten,
suchen sie in seiner Ahnentafel jüdische Spuren (Sepharden,
Sephardim – Sabatay), führen eine Denunziations-Debatte
über seine Herkunft.
Nazims Großvater mütterlicherseits, Mustafa
Celaleddin Pascha stammt aus Polen. Konstantin Borjenski, ein Adliger.
Nach der Niederlage im Aufstand gegen Österreich und Rußland
1848 floh er erst nach Paris, von dort nach Istanbul, konvertierte
zum Islam und stieg bis zum Pascha-Titel auf. Bekannt wurde er nicht
allein als Soldat, sondern auch als Urheber der Türkologie.
In seinem Buch „Les Turcs Anciens et Modernes“ versuchte
er, bei den Türken, die er als eigentliche Teilgründer
der Zivilisation sah, ihr Nationalbewußtsein zu erwecken.
Ein anderer Großvater Mehmet Ali Pascha soll
aus Preußen stammen. Karl Detrois. Sein Großvater väterlicherseits
Nazim Pascha war Dichter. Auch sein Vater war im Dienste der Hohen
Pforte und diente als Konsul in Deutschland.
***
Im Frühjahr 1992 veranstaltete das grünnahe
Ökologische Bildungswerk Saarland (heute: Heinrich-Böll-Stiftung)
einen Vortrag mit dem islamistischen Publizisten Abdurrahman Dilipak,
der seine Ausführungen mit den Versen von Nazim Hikmet begann.
Damit bezweckte er, dem Publikum zu zeigen, wie weltoffen
die postmodernen Postulanten der Scharia sind. Dabei ging er wahrscheinlich
davon aus, daß den Anwesenden der türkische Weltdichter
Nazim Hikmet wohlbekannt ist.
Aber die Wahrheit ist ganz anderes. Nazim Hikmet kam
– auch gegenwärtig – nie richtig in Deutschen Landen
an, höchstens als ein orientalischer Verseschmied. Auch nachdem
ihm die UNESCO anläßlich seines 100. Geburtstages das
Jahr 2002 widmete. Abgesehen von Ausnahmen in der DDR wurden seine
Werke nicht anständig, das heißt fachgerecht, ins Deutsche
übersetzt.
In den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts schaute
ich in das Schaufenster eines Buchladens in einer kleinen französischen
Provinzstadt und sah zwei Mal Nazim Hikmet.
Kurz danach begann ich, Nazim Hikmet-Gedichte ins
Deutsche zu übertragen. Ich wandte mich an verschiedene Verlage,
sie in einem Band zu veröffentlichen. Die Antwort: Von unbekannten
ausländischen Autoren macht man keine Bücher.
Ohne die freiwillige Arbeit von wenigen Türken
hätte der Bekanntheitsgrad Nazim Hikmets nicht den heutigen
Stand erreicht. Das sind aber Übersetzungen, die sich auf Schuldeutsch
stützen. Mit der Ausnahme des Bandes „Ich Liebe mein
Land“, dessen Verlag seltsamerweise unbekannt ist und aus
dem die folgenden zwei Gedichte entnommen wurden:
Vorgeschichte
Wir kommen weit her,
sehr weit her...
Wir haben noch immer
das Schwirren der Steinschleudern im Ohr.
Die Grenzen der Bergeinöden und Wälder,
gesäumt mit blutigen Tiergerippen,
vom Wiehern wilder Hengste erfüllt,
sind das Ende des Wegs, den wir kamen.
Doch fruchtbar,
wie der schwere schwangere Leib
einer breithüftigen jungen Mutter,
ist das in unseren Trinkkübeln schaukelnde
Wasser.
Wir kommen weit her.
Das Leder unserer Stiefel
riecht nach verbranntem Fleisch.
Aufgeschreckt
vom Hall unsrer Schritte,
erheben die blutigen, dunklen Jahre sich
wie geflügelte Urtiere
in die Luft.
Und in der Finsternis flammt
der gespannte Arm unsres Anführers
wie ein feuriger Pfeil...
Wir kommen weit her,
sehr weit her...
Die Bindung zur fernen Vergangenheit
verloren wir nicht,
noch immer ruft unser Erbteil uns
das Beil, das auf Bedreddins Nacken fiel,
ins Gedächtnis zurück.
Wir waren in Ankara bei der Handwerkerbruderschaft,
wir wissen, welchem Lehrer zuliebe
wir die behaarte Brust den Heeren des Sultans boten...
Wir kommen weit her
und tragen als Flammenlüster
Galileis runden Schädel wie einen sich drehenden Erdball
auf unseren Händen.
Auf unseren Adlernasen
findet die Brille
des materialistischen Glasschleifers Spinoza
ihren würdigen Platz.
Wir kommen weit her,
sehr weit her...
Und es kommt die Zeit,
da stecken wir unser Haar in Brand
und legen der Finsternis Feuer ins Haus.
Mit den Köpfen der Kinder zerschlagen wir
der Dunkelheit Wand...
Und die nach uns kommen, sollen nie mehr
durch Eisengitter, sondern aus hängenden Gärten sehen
die Frühlingsfrühen, die Sommernächte
im Land.
Nazim Hikmet
Deutsch von Annemarie Bostroem
Aus: »Ich liebe mein Land«
Lied der Sonnentrinker
Dies ist das Lied
der Sonnentrinker,
die aus irdenen Schalen
Sonne trinken!
Dies ist ein Zopf
ein flammender Schopf,
der flackert und loht
wie eine Fackel, blutig und rot,
über den braunen Stirnen
der nackten Helden
mit kupfernen Füßen!
Ich sah jene Helden auch,
auch ich umschlang diesen Schöpf,
auch ich stampfte mit ihnen allen
über die Brücke zur Sonne!
Auch ich trank Sonne aus irdenen Schalen,
auch ich sang das Lied!
Unser Herz empfing seinen schnellen Schlag
von der Erde.
Wir reckten uns und zerbrachen
der feuermähnigen Löwen Rachen.
Wir erklommen im Sprung
den blitzgeladenen Sturm!
Adler, losbrechend vom Fels
mit Felslawinen,
schlagen ihre sonnenvergoldeten Flügel.
Flammenhändige Reiter
schwingen die Peitschen
und reißen die schäumenden Rosse am Zügel.
Der Sturm bricht auf,
zur Sonne empor!
Wir bezwingen der Sonne Lauf
und erobern die Sonne im Chor!
In unserem Zuge
können wir keine gebrauchen,
die an die Ketten der Tränen von Frau und Kind
gefesselt sind!
Kein Platz ist bei uns für solche,
die sich in den Panzer
ihres Herzens verkriechen!
Sieh, in diesem Feuer,
das von der Sonne fällt,
brennen Millionen roter Herzen
überall in der Welt!
Aus dem Käfig der Brust
reiße dein Herz,
wirf es in dieses Feuer, das erdenwärts
von der Sonne auf uns herabfließt.
Wirf es zu unseren Herzen
Der Sturm bricht auf,
zur Sonne empor!
Wir bezwingen der Sonne Lauf
und erobern die Sonne im Chor!
Unsre Ahnen sind Feuer, Wasser, Erde und Eisen.
Unsre Frauen säugen die Kinder mit Sonne.
Unsre kupfernen Bärte duften nach Erde.
Unsre Handflächen sind vom fetten Schweiß
der Felder durchtränkt.
Unsre Freude ist warm, wie Blut, ist heiß,
wie das Kissen des Jünglings
von der Erregung der ersten Liebe.
Die Enterhaken unserer Leitern
werfen wir an die Sterne
und schreiten über die Schädel
der toten Freunde zur Sonne empor!
Die Toten starben im Kampf,
versinkend in Feuergarben.
Wir haben nicht Zeit,
um sie zu trauern!
Der Sturm bricht auf,
zur Sonne empor!
Wir bezwingen der Sonne Lauf
und erobern die Sonne im Chor!
Die Weinberge dampfen vom Blut der Trauben,
die dicken Ziegelschornsteine schrauben
sich qualmend empor.
Vor uns gellt
unseres Anführers Stimme.
Wie sie hallt!
Dieser Stimme Gewalt
macht die Augen der hungrigen Wölfe blind,
diese Gewalt
bannt sie dort fest,
wo sie sind!
Befiehl meinen Tod!
Befiehl!
In seiner Stimme trinken wir Sonne auch,
berauscht sind wir,
er ist berauscht!
Im Rauch
der flammenden Horizonte
jagen die Reiter,
die Himmel zerfetzend
mit ihren Lanzen!
Der Sturm bricht auf,
zur Sonne empor!
Wir bezwingen der Sonne Lauf
und erobern die Sonne im Chor!
Die Erde ist kupferrot,
der kupferne Himmel loht.
Singt das Lied der Sonnentrinker
laut, weit,
schreit!
Nazim Hikmet
Deutsch von Annemarie Bostroem
Aus: »Ich liebe mein Land«
Zum Schluß zwei weitere Gedichte von Nazim Hikmet:
Brief aus Polen
Liebste, meine Kusine mütterlicherseits, Mutter
meines Memeds,
einer unserer Großsväter ist
der Polen-Emigrant von 1848.
Aus diesem Grund vielleicht ähnelst du
der schönen Frau aus Warschau,
als wärest du ihr Zwilling
Aus diesem Grund vielleicht habe ich
einen solch blonden Schnurrbart
bin so hochaufgeschossen
sind solch nord-blau die Augen unseres Sohnes
Aus diesem Grund vielleicht erinnert die Ebene hier
an die unserigen Ebenen
Oder daher regt dieses polnische Lied
das in mir tief halb-hell ruhendes Wasser.
Aus Polen kam einer unserer Großväter,
das Dunkel der Niederlage in seinen Augen,
seine Haare mit rotem Blut gefärbt.
Die schlaflosen Nächte Borjenskis
scheinen den meinigen gleich zu sein.
Genauso wie ich verlor vielleicht auch er
unter einem in sehr weiten stehenden Baum seinen Schlaf.
Auch ihn hat vielleicht zum Delirium gebracht,
mit jedem Atem den Duft der Heimat zu wittern
und die Wahrscheinlichkeit,
die Heimat nie wieder zu sehen.
Übertragen aus dem Türkischen von Necati
Mert
HAVANNA-REPORTAGE
I
auf die kubanische Ballett-Mannschaft wartet der Flug
Prag-Havanna
getanzt hat sie in sozialistischen Städten sechs Monate lang
war wie buntfarbene Vögel die schreiend von den Inseln
warmer Meere auffliegen
ich habe mich daran nicht gewöhnen können
immer wenn das Flugzeug sich von dem Boden trennt
erinnere ich mich an verschiedene Arten von Unfällen
erst recht wenn ich den Gurt anschnalle
im reinen Blau sind wir
ein junges Mädel aus Moskau sitzt neben mir Geologin
klein und allerliebst und ein Honigtropfen mit Himmelaugen
Kuba ist etwas jünger als der Ural sagt sie
zwei Millionen Jahre jünger
aber seine unterirdischen Reichtümer sind der Schatz der Tausend-Einen-Nacht
wie der des Ural
unter der Erde laufe ich umher den Wurzeln den Knochen
stieß mein Kopf die Mineralien in Haufen leuchten farbenreich
im Dunkel
die unseren suchen Öl in der kubanischen Erde am Grund des
Atlantik sagt sie
die Trepane bohren den Meeresgrund durch zwischen den schaukelnden
Pflanzen und Fische glotzäugige dickbäuchige stachelreiche
Fische stießen das Glas meines Taucherhelms
wir werden es finden sagt sie Kuba kann ohne Öl nicht sein
wir müssen es finden
sie werden das Öl finden davon bin ich überzeugt aber
wie wird Nataschachen eben die Hitze aushalten
in Kasachstan habe ich zwei Jahre gearbeitet sagt sie die Hitze
fünfundvierzig achtundvierzig Grad
vorn von mir die Ingenieure aus Baku Bruno Peschte Warschau Peking
Weimar
Stahl will Fidel Castro gießen den Stahl wie die Regenfälle
mit tropischen Sonnen gießen
von dem Gefängnis der Zucker will sich Fidel befreien
unter uns liegt zwar Europa aber die kubanische Ballett-Mannschaft
stellte ihre Uhren schreiend nach Havanna-Zeit ein
im Laufschritt traten sie in die Steinfluren ihrer Häuser ein
und ich kann nicht begreifen ob wir dem Tag nachjagen
oder der Nacht
ob unser Leben länger wird
oder kürzer
ich sehe wir überfliegen den Streifen europäischer Küsten
der Streifen im Schaum
ich sehe wir sind über dem Atlantik
ein sonderbares Gefühl in mir
das erste Mal ist das mein Entfernen von meinem großen Boden
auf dem Ozean schwimmen wettlaufend Segel-Galeonen
zwischen den Windrosen und Seejungfern die größer sind
als sie selbst und in das sonderbare Gefühl in mir mischt sich
der Ruf der auf Gazellenfell gezeichneten Landkarten in die Ferne
die Bildfläche ohne Horizont
das Blau wurde purpurrot dunkel
in der Nacht landete unser Flugzeug auf einem sehr kleinen Stern
auf dem eine Schar von sehr grausamen Geschöpfen herrscht mit
hakenförmigen Händen und einem Auge auf der Kopfspitze
in der Nacht landete unser Flugzeug auf der Santa Maria Insel nach
sechsstündigem Flug
Portugiesisch wird gesprochen
ich dachte an Angola
auf den Kaffee-Plantagen in San Salvador nahe Kongo beginnend breiteten
sich die Aufstände aus
in jeder siebten Wochen töteten wir dreißig Tausend der
Tiere nächsten Monat werden wir noch hunderttausend töten
wenn sich der Regen erst einmal legt
so sprach der Offizier Lanada aus Portugal
als der Mond aufging flog unser Flugzeug ab
Santa Maria blieb unten inmitten der See die Hand auf der Brust
wie versteinert der Kummer einer Boje mit der längst abgeblätterten
Farbe wird hin- und hergeworfen beim Mondlicht im Wasser des Antlantik
ich schlief
ich wachte auf
überall die Sterne die ich nicht kenne
und voller Geschwindigkeit dann grauen die Sterne
die Mädchen der kubanischen Ballett-Mannschaft kämmen
ihre Haare schminken ihre Augenlider ihre Lippen und morgendliche
Schlaftrunkenheit läßt sie in diesem dicht geschlossenen
engen Raum mit der Verzückung eines Blumenkastens heranreifen
die Sonne ging auf
unten wird die Tiefe von dunkelblau zu hellgrün
die Koralleninseln erstrecken sich wie fürchterliche Schlangen
spiralig gewunden auf der glasbäuchigen Helligkeit
die Küsten Kubas mit ihren Buchten in Sicht
die Buchten nebeneinandergereiht wie silberne Becken
die Gewässer der kubanischen Buchten sind behaglich und können
alle in allen Meeren schwimmenden Schiffen Unterschlupf gewähren
am gleichen Tag in gleicher Nacht
ich bin mir sicher die Insel Kuba ist eine Paradies-Frucht im Korb
des Golfes von Mexiko
Schlangen gibt es in Kuba nicht und seine Skorpione sind nicht giftig
auch gibt es keine wilden Tiere wenn man die Krokodile im Sumpf
von Zapata nicht zählt
sie sind bis zu sieben Meter lang und wenn man sich hinter sie stellt
und ihnen den Knüppel verpaßt so sind sie erledigt
und noch die Spierhaine in den Felsenriffen von Cohimar
Wirfst du einen Orangenkern in den geschwitzten Boden Kubas am Frühmorgen
du findest einen Orangengarten gegen Abend
es ist die Geschichte über das Menschenkind über
die Jugend die Hoffnungen des Menschenkindes
andere erzählten die Geschichte schöner als ich sie werden
sie schöner erzählen als ich
Freund-Feind es gibt niemanden mehr der die Geschichte nicht zu
hören bekam
Batista war der Knecht vom Schlangenkönig
Batista der General von Millionären der Zuckerrohre sowohl
der Yankees als auch der Einheimischen und den Millionären
des Tabaks und Kaffees sowohl der Yankees als auch der Einheimischen
und von einer fünfzigtausend Mann-Armee mit Flugzeugen und
dann von den Kasernen in denen die Helden mit Schlägen getötet
wurden nachdem sie kastriert und ihnen die Augen herausgebohrt worden
waren und von Wachtoren vor denen auf dem Rücken liegend Leichen
verfaulten und von den Schreien die jede Nacht die Mauern der Wachgebäude
zerreißend hinausflogen in den heißen Dunkelheiten wie
blutende Vögel zappelten und von den Frankoisten Geistlichen
und den Spielsalonen und dann den Heroingroßhändlern
und den Gangstern sowohl den Yankees als auch den Einheimischen
und dann den Huren allein in Havanna fünfzehntausend und von
den wie ein an Land gespülter Spierhai Verfaulenden und von
dem mit verzücktem schweren Blumengeruch vermischten Aasgeruch
war in Kuba wo vier Millionen von insgesamt sechs Millionen Bevölkerung
Hunger hatte und Hunderttausend an Tuberkulose erkrankt und das
den Yankees in den letzten zehn Jahren mehr als eine Millarde Dollar
Gewinn brachte seit Jahren in der Knechtschaft des Botschafters
der Vereinigten Staaten von Amerika der Boden- See- und Luftstreitkräfte
der Vereinigten Staaten von Amerika des Dollar der Vereinigten Staaten
von Amerika
im November 1956 stiegen 82 Menschen vom Schiff Granma
ins Meer unter ihnen Fidel
sie die im November 1956 aus dem sich den Küsten Kubas einschleichenden
Schiff Granma in das Meer ausstiegen bis zur Gürtelgegend im
Wasser versenkt und ihre Gewehre über dem Kopf haltend und
unter dem plötzlich und im gleichen Augenblick eröffneten
Kanonen- und Maschinengewehr Feuer an Land gingen und sich vor den
die Dunkelheiten wie die Polizeihunde beriechend durchwühlten
Scheinwerfer schützten und die Stimmen ergeb euch ihr seid
umzingelt und die dicken Fröschen mit Füßen tretend
blitzschnell in die Sümpfe und Zuckerrohrplantagen gingen und
hinter den Zierpalmen und Kokosnußpalmen her auf die Hügel
hinauf kletterten trafen sich auf dem Berg Sierra
12 von 82 blieben am Leben unter ihnen auch Fidel
12 Menschen waren sie im November 56 unter ihnen auch Fidel
150 Menschen waren sie im Dezember 56 unter ihnen auch Fidel
500 Menschen waren sie im Februar 57 unter ihnen auch Fidel
1000 sind sie geworden unter ihnen auch Fidel
5000 sind sie geworden unter ihnen auch Fidel
eine Million hundert Millionen eine ganze Menschheit sind sie geworden
unter ihnen auch Fidel stürzten Batista im Januar 1959 und
die 50-tausend Mann-Armee und die Zuckerrohrmillionäre sowohl
die Einheimischen als auch die Yankees und die Tabaks- und Kaffee-Millionäre
sowohl die Einheimischen als auch die Yankees und dann die Kasernen
und die Wachgebäude vor denen Leichen verfaulten und die Heroin-Großhändler
und die Spielcasinos und den Botschafter der Vereinigten Staaten
von Amerika und die Luft- See- und Bodenstreitkräfte der Vereinigten
Staaten von Amerika und der mit dem schweren Blumengeruch vermischten
Aasgeruch in der Luft Kubas löst sich auf nämlich der
Geruch der Vereinigten Staaten von Amerika
wir nähern uns nach Havanna sagte die Stewardess
die Palmen die Palmen schrie eines
als hätte es Mutter Mutter geschrieen kam es mir vor
an den Deckgläsern schlagen die kubanische Ballett-Mannschaft
vor Freude um sich wie riesige Schmetterlinge
nach insgesamt achtzehn Stunden Flug stiegen wir hinunter landeten
auf dem Boden nicht dem Beton sondern der Helligkeit
inmitten der Helligkeit sah ich sie eng umarmt mit der Helligkeit
drei Menschen waren sie zwei Männer zwei Frauen
einer mit Bart
sie waren jung
feststellen konnte ich nicht welcher weiß war welcher mischling
welcher schwarz
ich konnte nicht feststellen ob der Bärtige weiß schwarz
oder mischling war
schwer festzustellen ob die Frau schwarz weiß oder mischling
war
so ähnlich ihre Augen und alles von ihnen in ihren Augen
nicht möglich die Farben ihrer Häute voneinander zu trennen
sind das Blut und die Haut sind unter dieser verschmelzend ausbreitend
knetend schöpfenden Sonne so durcheinander gemischt wie die
Lieder und Tänze
alle drei trugen blaß-blaue Hemden dunkelolivegrüne Hosen
an ihren Gürteln die Pistolen mit fein ziselierten Griffen
in den Händen Mitrailleusen
und einer hatte seine Mütze gefaltet unter die Epaulett gesteckt
nicht konnte ich feststellen ob der Weiße Schwarze oder Mischling
später begegnete ich ihnen in allen möglichen Stunden
des Tages und der Nacht in allen möglichen Orten manchmal Lastwagen
voll manchmal einzeln
einmal waren sie Wache vor dem Palast des Schriftstellerverbandes
zwei Mädchen im Alter von vierzehn Jahren
die Mädchen von Kuba wachsen früh auf wie unsere anatolischen
ihre Mitrailleusen bereit zu feuern
und ihre grünen Mützen etwas den schwarzen Augenbrauen
geneigt
einmal war es ein Neger mit gelocktem grauem Haar wie ein Riese
und hatte sich an die Tür der Bank gelehnt
und seine Mitrailleuse zwischen den offenen Beinen auf dem Boden
einmal las sie meine Gedichte im Fernsehen ohne seine Pistole vom
Gürtel abzunehmen
diese die größte Schauspielerin Kubas
in einem weißen Cadillac fuhren wir in Havanna ein
in einem solchen Auto sitze ich zum ersten Mal in meinem Leben
es ist kein Wagen sondern Ozean
sein Millionär sei nach Miami geflüchtet
der Thron des Zaren fiel mir ein
mit neunzehn setzte ich mich im Kreml darauf und ließ mich
fotografieren er war gehüllt
II
wie ein Hautpullover ganz klebrig geschwitzt klebt die Hitze an
meinem Rücken
von 24. Stockwerk des Hotels schaue ich in die Stadt während
der nächtlichen Zeit
was ich sehe gleicht einem Meer in das die Sonne scheint
es leuchten gelbe blaue violette grüne Fische Funke um Funke
und die riesen Käfer mit weißen Perlmutten
und die Felsen mit den Halbtier Halbpflanzen langen flaumigen roten
Blumen
im 24. Stockwerk des Hotels höre ich die Stadt während
der nächstlichen Zeit
die stand in den Liedern versunken
die Lieder in der Erde dem Stein dem Blatt
die Lieder wie vibrierende Hitze in der Erde dem Stein dem Blatt
in der Luft wie Stickstoff und ähnliches die Lieder
die Lieder die Schale das Fleisch der Kern der Früchte
der Duft der Blumen die Lieder
die Lieder Spanien Arabien Afrika
die Lieder in den Augen den Hüften der Frauen
die Lieder die warmen Hände der Männer
die Lieder die Beine die Taillen die Schultern der Tänzer
mit dem Aufzug fahre ich zur Vorhalle
Bauernmädchen im Aufzug von den Dorfgebieten Bayamo der Provinz
Oriente
in die Stadt gekommen nähen zu lernen
wohnen in den Appartements des Hotels Habana Libre (Freies Havanna)
an deren Wänden Schatten von Millionären hinterlassen
der frühere Name des Hotels Hilton
24 Million habe es gekostet
im Aufzug Dorfmädchen von der Provinz Bursa den Dörfern
Ankaras
was habt ihr Mädchen in Istanbul zu suchen wie haben sie euch
Mädchen im Hilton erlaubt
aber Hilton ist nicht mehr Hilton sagen sie man nannte ihn schon
lange um zum Freien Istanbul
und legen ihre mit Henna gefärbten Hände auf den Mund
und lachen
auch die Gutsherren sind geflüchtet mit Amerikanern
und die Ländereien
sie haben wir unter uns geteilt
in der Halle sah ich Ivanof den Aleksej Wasiljewitsch
seine Lederjacke auf den Schultern gelegen
am Gürtel die Nagaika
Stiefel an den Füßen
mit goldfadenem langen Schnurbart
erzählt dem schwarzen Wächter unter dem Bild Castros wie
sie in Petrograd den Winter-Palast stürmten
in Wahrheit starb Aleksej Wasiljewitsch 1941 während der Verteidigung
von Moskau
1941 starb Aleksej Wasiljewitsch sein grauer Schnurrbart voller
Blut
es schneit
Schlitten fahren vorbei die Schnee Spur um Spur zeichnend die den
Holz Fußboden der Tiverskoi Straße bedecken
Alizade aus dem Kaukasus trat in die Halle ein mit seinem Lezginka
mit seiner Persianerpelzmütze seinem Handschar den silbernspitzigen
Patronen auf seiner Brust und noch mit den immer noch schmerzenden
zwei Wunden als Andenken von Wrangel zugefügt
mit einem los! würde er den Scheich Schamil Tanz beginnen und
die Mädchen Havannas würden die Finger im Mund beißen
in Wahrheit sah ich Alizade vor drei Monaten in Baku aus seinem
zwei farbigen Volga-Auto aussteigen alt geworden
es war schwer ihn zu erkennen
Delegierte in der Halle
jene die gestern in Havanna ankamen
aus Argentinien Chile Eguador Brasilien Italien Indien Madagaskar
Finnland Tschechoslawakei
der Franzose Jean-Pierre spricht mit dem Delegierten von Martinique
ich weiß aber Jean-Pierre starb an den Toren Madrids von Hitlers
Panzern zertreten
aber Jean-Pierre steht vor mir sein Gesicht ohne Falten wie ein
Apfel
und dazu noch rot geworden
wegen der Kälte vielleicht
in jenem Jahr 1922 ist die Kälte in Moskau 27 Grad unter Null
in diesem Jahr 1961 ist die Hitze in Havanna 35 Grad über Null
III
ich laufe durch die Straßen Havannas umher
verwechsele den Asphalt mit den Bäumen
schwer die Autos vom Asphalt zu unterscheiden
den Regen von der Sonne
die weißen Wolken von den blitzblauen Schwimmbecken
ich verwechsele die Frauen mit den Früchten
die Kindergärten mit der Freiheit
schwierig die Freiheit und die Menschen dieser Stadt voneinander
zu unterscheiden
die Mitrailleusen verwechsele ich mit den Türen mit und ohne
Säulen Eisen Holz Glas alle großen und kleinen Türen
zu Straßen mit Mitrailleusen Mitrailleusen
die Barrikaden aus Sandsäcken verwechsele ich mit dem Atlantik
schwierig die Morgenröte die die Phantome amerikanischer Flugzeugträger
beobachten und die Barrikaden aus Sandsäcken voneinander zu
unterscheiden
die Bauernmütter verwechsele ich mit dem Präsidenten-Palast
die Monumenten Statuen Büsten Jóse Martins verwechsele
ich mit den Fotos von Fidel besonders seinen Steindruckbildern
ich verwechsele Fidel mit den Liedern die Internationale den Cha-Cha-Cha
den Pacenger mit Fidel
somos socialistas palante palante
ich verwechsele hunderttausend Menschen die sich auf einem Platz
in einer Reihe hintereinander aufstellend ihre Hände miteiander
auf den Rücken legend Rumba tanzen mit Fidel
schwierig Fidel und Havanna voneinander zu unterscheiden
Ich begegne Marx auf den Bücherdeckeln zwischen Ananas und
Mambo und begegne Marx mit seinem hohem Bart neu von der Sierra
Berg angekommen
Lenin begegne ich jeden Tag noch öfter begegne ich Lenin in
den winzigen roten Sternen aus den sonnigen Mauern und inmitten
des Spanischen
auf der hohen Holztribüne den Arm nach vorn gestreckt spricht
er auf dem Roten Platz
zwischen den kubanischen Fahnen Lenin
ich begegne Nikita in den Reimen der Lieder
und Kennedy begegne ich mit seinen künstlichen Glatthai-Zähnen
den Resten von Packpapier begegne ich angenagelt an diesen oder
jenen Toren der Banken und Fabriken
und auf ihnen oft mit roter Tinte Nacionalizado geschrieben
und ich begegne Bauern
auf der rechten Hand die Besitzurkunden der Ländereien und
Genossenschaftsausweise auf der linken Hand
und so in einem Zustand als befänden sie sich in einem Traum
manchen von mehr als 50 Millionen Bäumen und zehntausend Schulen
die die Revolution errichtete begegne ich
ich begegne Architekten
ich begegne Architekten die von der Sonne dem Mond den Sternen besser
gesagt von einer sehr sehr viel mehr glücklich gelebten Welt
sagen wir vom Zentrum des einundzwanzigsten Jahrhundert kommen und
deren Schnurrbart eben gesprossen
Gärten und Häuser bauen sie aber in solchen Formen Farben
Gemütlichkeiten daß die Augen des Menschen bis heute
in keinem Ort der Erde gesehen hat
die Häuser sind nicht wie die Fertigkleidungen sagen wir daß
ein Fischer-Haus kein Haus ist sondern eine Juwelen- Schatulle nicht
dem anderen ähnlich
daß die Architekten der sozialistischen Revolution so viele
so schöne und noch dazu sofort zu sagende Worte hatten für
die Arbeiter die Bauern die Intellektuellen in Kuba
und wie sie die Hitze in die Frische und die Dunkelheit in das Licht
zu verwandeln wissen
ich begegne Arbeitern
niemand ist wie sie mit solchem Vertrauen durch ihre Straßen
gegangen seit Havanna Havanna wurde
und ich bin jeden Tag etwas jünger in Havanna
jeden Tag etwas mehr verliert mein Mund die Bitterkeit der Welt
jeden Tag werden die Linien meiner Handflächen etwas weicher
und ich glaube jeden Tag etwas mehr daran daß die Frau in
sehr weiten Fernen an mich nur an mich denkt
und jeden Tag etwas mehr fröhlicher gehe ich singend durch
die Straßen Havannas
somos socialistas palante palante
Im Sommer 1961 in Havanna begonnen
in Moskau zu Ende geschrieben
Übertragen aus dem Türkischen von Necati Mert
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