XXVIII. Jahrgang, Heft 150
Jan - Mär 2009/1
 
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Letzte Änderung:
14.02.2009

 
 

 

 
 

 

 

Das Leder-gebundene Buch

      Die heilige Schrift

von Nazim Hikmet

   
 
 


Das Buch, dessen vergoldet lederner Umschlag
zerrissen dalag,
habe ich letzte Nacht unter dem Mondlicht,
wie ein verwirrter Derwisch,als wäre dessen Kerze gelöscht,
dessen Holzständer auf den Boden umgefallen,
stundenlang gelesen...

Immer wenn ich jedes muffig riechende gelbliche Blatt des Buches umschlug,
das im brüchigen Busen des vergoldet ledernen Deckels schlief,
glaubte ich, die Erde eines Grabes ausgeschaufelt zu haben.
Dürftige handgeschriebene Schriften lebten einzeln wieder auf
zeigten die in Mären gezeichneten Gesichter her:
Der Teufel verwandelte sich in eine Schlange,
Adam fiel aufs Schmeicheln Evas herein.
Ich sah jenen verfluchten Geist, der seinen Bruder umbrachte.
Ein riesiges Holzschiff wurde in Ozeanen hin- und hergeworfen.
Ich sah den Noah vor den Horizonten auf Tauben wartend.
Ismaels Fußknöchel ließ aus dem Sand heiliges Wasser (Zemzem) hervorsprudeln.
Im Berg Sinai erhob Moses seine Arme.
Als er seinen Stock schlug, spaltete sich das Meer (Kulzem) auf.
Die Kinder Israels fanden die Wege nach Jerusalem.
Zacharias hielt seine Botschaft
einem endlosen Ah zugute.
Geboren wurde Jesus, dem Gott schenkte
Maria ihre Jungfernschaft.
Mohammed vom (Stamm) Kureysch fand in Medina Zuflucht.
Ein Feuer-Grab wurde Kerbela für Hüseyin...
Immer wenn die Seiten umschlugen,
richteten sich all diese nacheinander auf
und fielen um.
Der Mond ging unter, die Sonne auf,
Feuer brach in meinem Herzen aus.
Das Buch, dessen vergoldet lederner Umschlag
zerrissen dalag,
warf ich in einen ausgetrockneten Brunnen,
damit es in einem ewigen Schlaf versinkt...
***

Schade, jammerschade, daß wir uns Jahrhunderte lang täuschen ließen!
Um die im Dunkel gezeichneten Spuren anzusehen,
zu sehen und sie mit dem Gesicht zu berühren,
schade, jammerschade, daß wir daher wie ein Lampendocht brannten...
Weder kam vom Himmel der Erretter noch ein Fetzen Güte.
Den arbeitenden Sklaven gaben Moses, Jesus, Mohammed
nur eine Zeile Segenswunsch, ein Hauch Weihrauch,
haben die Wege zu den Märchen-Paradiesen gezeigt.
Weder fünfmaliger Gebetsruf noch Angelus-Glocken
rettete die elend Arbeitenden von Ketten.
Weiterhin sind wir Sklaven, haben unsere Herren,
weiterhin eine Mauer, deren verfluchte Steine alle bemoost,
gab ihnen den Namen Sklave und Herr,
teilte in zwei Schicksale die Kinder der Erde.
Der Herr läßt betreiben, der Sklave arbeitet immer noch.
Weiterhin bleibt von silbernen Eßtischen der Herren,
vom schneeweißen Brot, dem Wein gefüllten Becher
nicht einmal ein Brosamen, Abfall für die Arbeitenden.
Immer noch bringen wir am Abend jedes versklavt vergangenen Tages
nach Hause nur ein Stückchen Brot.
Während der Regen wieder auf dem Dach unseres Hauses widerhallt,
wie wir auf die Sonne warten uns aufzuwärmen,
wie die kranken Hunde, die sich dicht heranmachen,
zittern wir unter unserer zerrissenen Decke.
Mit unserem Ochsengespann, Schottenschlegel, endlosem Schuften,
mit unserer seit Jahrhunderten in seiner Brust tönenden Hacke
geriet in Aufregung das Herz der schwarzen Erde,
wie eine junge Frau, die sich ergibt,
schmückte sich mit Blumen der Baum namens Erde.
Während wir unter diesem unseren Baum hungrig sterben,
zeigend die Herren ihre grinsenden Zähne,
pflücken gesondert seine ganzen Früchte...

Herren, Agas, Heilige, Geistliche
sollen in den Armen der ewigen Dunkelheit ersticken
Nunmehr auf den lichterfüllten Wegen des reinen Wesens
sind einfach eine Religion, ein Gesetz, ein Recht:
rotierende – Zähne...

Aus dem Türkischen von Necati Mert

   

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