XXV. Jahrgang, Heft 142
Okt - Nov - Dez 2006/4

 
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Letzte Änderung:
03.06.2006

 
 

 

 
 

 

 

Necati Mert´s Kolumne

Weltenlenker vor Fluchtwellen – Globetrotter hinter Grenzwällen


   
 
 

Inszeniert der Kriegsminister den Apolog der Apokalypse, gehören Betonmauer und Stacheldraht zur Grundausstattung. Noch steht das historische Bauwerk bevor: Eine Stahlplatten-Mauer mitten in Oder und Neiße sowie den Gebirgshügeln, Sturmboote vor den Adria-Küsten der Festungsstiefel, auf der Straße von Gibraltar und überall sonst, wo der Limes des Abendlandes markiert wird. Von innen freiheitlich und schwarz-rot-gold, von außen mit Graffiti und Efeu versehen: Betreten der Freiheitszone nur für Inhaber der "Greencard", ausgestellt vom Versorgungsamt der Berliner Reichsrepublik für die Versorgung der Greisen-Idylle mit frischem Humankapital und grauem Freiheitsfanal.

Ex oriente lux im Souterrain unter der Spree, lavendelblau und weinrot laviert, am Keilbein des Auswärtigen Amtes. Dort ist Orient des Vierten Reichs nicht nur etwas aus den Steppen östlich vom Bosporus, etwas aus Ruhrpott-Ghettos oder Kreuzberg-Kolonien, sondern auch aus dem Neufünfland-Container auf dem Grundstück der früheren DDR.

Ex oriente lux im Amphitheater der "Eine Welt"-Germania: Dem sozial umrundeten Antikommunismus der demogracierten Rosen-Fänger folgten die gelinkten Sonnenblumen-Sänger - das Grammophon der "IV. Internationale" spielte in der Souffleur-Kabine das Leo-Trotzki-Walzer der "permanenten Revolution". Neue Akteure brauchte aber der Hegemonialakt der Freiheitslyrik. Die Civilsociety lieh sich Laien, und die bunten Postboten mit dem Label NGOs brachen auf in Weiten, begannen Vasallen- und Lakaien-Clubs in Trikont und Peripherie mit Bahschisch und Menschenrechtshaschisch zu versorgen.

Ex oriente lux im Chancellor-Provisorium: Nach Informationen aus den Waschweiber-Kabinen klafft im Schröder-Kabinett ein unüberbrückbarer Graben zwischen grün und rosa. Man sagt, die einen glauben, nicht genug vom Ethno-Konsum bekommen zu haben, während sich die anderen danach sehnen, ab und zu einmal die "Internationale" anzustimmen. Und der Ex-Stadtguerilla-Anwalt Otto Schily versucht auf poetisch-ansprechende Weise zu erklären, warum er im Bund mit der alldeutschen Mehrheit gern eine Rolle Stacheldraht mehr an den deutschen Grenzen ausrollen will. Grenzwälle werden, hätte er im Jetzt-Posten des strammen Innenministers sagen müssen, gerade in den Zeiten des Freihandels vor dem Fluß des Kapitals mit dem Präfix "Human" ausgebaut.

Ex oriente lux im Urbanen-Kontinuum: Grenzwälle sind so alt wie Polis und Agora, wo es darum ging, den privatisierten Reichtum gegen die Barbaren zu verteidigen. Als Barbaren galten immer jene Geschlagenen, die von ihren Sieger in Besitz genommen sowie auf den Sklavenmarkt ausgepeitscht wurden. Als Barbaren galten jene Völkerschaften, die von den Heeren der Patriziate und feudalen Burgherren überfallen und ausgeplündert wurden.

Auf die Grenzwälle stützen sich gegenwärtig die Normalfälle der nordischen "Eine Welt"-Oligarchie wie die grauen Zonen der Maquiladora-Industrien - auch im unmittelbaren Blickfeld der berlinischen Metropolitan-Linke. Kommt es in ihrer Diskursbaracke zum Streit über die Grenzwerte der Globalisierung, so schaut sie einheitsparteilich sofort über den Atlantik und wirft den Starrblick auf die Billigstlohnoase im Grenzgebiet von Mexiko zu den USA. Daß diese Maquiladora-Industrie auch auf den gegenüberliegenden Ufern der eigenen Grenzflüsse und in den benachbarten Hängen der Grenzgebirge florieren könnte, kann sie nur schwer glauben. Erst braucht sie Fakten, und die liegen natürlich im Panzerschrank der Deutschland AG.

Es folgt der Jammerchor mit Missionaren-Manier, wenn die Texter der Zivilisationssheriffs eine "Neuregelung der vertrackten Asylparagraphen" aufs Papier bringen und gegen das Dogmenarsenal der Menschenrechtsaktionäre die Hand erheben. Hierzu eine Stellungnahme in "Denkpause" vom 27. März 2000, der Informationsschrift von Ilka Schröder, MEP/Fraktion "Die Grünen/Europäische Freie Allianz":

Der deutsche Innenminister Otto Schily will humanitäre Maßnahmen von BeamtInnen des BGS stärker verfolgen. Zwei Grenzschützerinnen hatten laut einem Bericht des "SPIEGEL" (31.01.00) 200 DM für den ungehinderten Einlaß von Flüchtlingen angenommen - und damit das gleiche gemacht, wofür an der Grenze BRD-DDR einst als Helden gefeiert wurden.

Für die Zukunft will Schily die Flüchtlingsabwehr nach Osten verlegen. Ungarns Abschottungspolitik lobt er mit den Worten: "Ich habe den Eindruck gewonnen, daß sich Ungarn den Erfordernissen einer EU-Mitgliedschaft bewußt ist und sehr konsequent an die Probleme herangeht". Damit Europa auch nach einer Osterweiterung eine Festung bleibt, gibt Deutschland bis 2002 zur Sicherung der Grenze an Ungarn technische Ausstattungs- und Ausbildungshilfen im Wert von zwei Millionen DM. Der Grenznachbar Polen hat seit 1992 für den gleichen Zweck 13,9 Millionen DM erhalten. Die Rhetorik von "Ausländerflut" und "Das Boot ist voll" setzt Schily mit der Warnung an Polen fort, daß es nach dem EU-Beitritt eine "stark immigrationsbelastete Außengrenze" sichern müsse. Nach Zählungen der deutschen Bundesregierung sind zwischen 1997 und Oktober 1999 an den deutschen Außengrenzen 42 Personen bei Einreiseversuchen gestorben. An anderen EU-Außengrenzen (vor allem im Meer vor Spanien und Italien) umgekommene Menschen, sowie jene, deren Leichen in der Oder/Neiße unauffindbar untergegangen sind, tauchen natürlich auch in den Statistiken nicht wieder auf. Otto Schily ist Innenminister der rot-grünen Bundesregierung von Deutschland.

Otto Schily gehört zum Generalstab der Menschenrechtskrieger in der Schengenburg, fühlt sich jedoch nicht zuständig für das Toten-Drama am Limes des Imperium Okzidentum, wie es sich im folgenden Szenarium einmal abspielte – aufgedeckt durch eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau und der Fraktion der PDS im Deutschen Bundestag:

Ein unbekannter Mann wird erfroren und ertrunken an der Neiße gefunden. Ein unbekannter Mann wird ertrunken an der Oder gefunden. Ein Baby aus Afghanistan ertrinkt in der Neiße. Eine unbekannte Frau wird ertrunken an der Neiße in der Nähe gefunden. Sieben Menschen sterben bei einem LKW-Unfall auf der Flucht vor dem BGS in Weißenborn.

60 Nordafrikaner ertrinken auf ihrem Weg nach Spanien in der Nähe von Tanger. 7 Nordafrikaner ertrinken in der Nahe von Pantelleria auf ihrem Weg nach Italien, als ihr Boot untergeht. 3 Iraki werden bei ihrem Versuch, die türkisch-griechische Grenze zu überqueren, durch Minen getötet. 26 Nordafrikaner ertrinken bei ihrem Versuch, die Straße von Gibraltar zu überqueren. 4 Nordafrikaner ertrinken auf ihrem Weg nach Spanien in der Nahe von Tarifa. Ein Albaner wird auf seinem Weg nach Italien durch eine Bootsschraube tödlich verletzt. 5 Albaner ertrinken auf ihrem Weg nach Italien in der Nahe von Brindisi.

Der erste Teil der Kleinen Anfrage: Wie viele Personen sind nach Kenntnis der Bundesregierung in den Jahren 1997 bis 1999 an den Landgrenzen, Küsten, Seehäfen, Flughäfen bz v. im Grenzgebiet der Bundesrepublik Deutschland tot aufgefunden worden (bitte nach Datum und Ort des Auffindens, Nationalität des Opfers und Todesart bzw. Umstände des Todes aufschlüsseln)?

Die Anwort der Bundesregierung vom 25. Oktober 1999: Tote und Verletzte im Zusammenhang mit dem Versuch, unerlaubt nach Deutschland einzureisen, sind die traurigen Begleitumstände einer Schleusungskriminalität, deren Drahtzieher immer professioneller und zunehmend menschenverachtender operieren. Die seit 1998 gleichwohl deutlich zurückgehende Zahl von Todesfällen beruht auf einer offensichtlichen Änderung der Schleusungsrouten. Kriminelle Schleuser führen ihre Opfer nicht mehr hauptsächlich über die deutsch-polnische Grenze mit den vor allem in der Dunkelheit gefährlichen Flüssen Oder und Neiße, sondern schleusen vermehrt über die deutsch-tschechische und deutsch-österreichische Landgrenzen.

Der Bundesregierung sind in den Jahren 1997 bis 1999 (Stand 10. Oktober 1999) nachfolgend genannte Einzelfälle bekannt geworden, bei denen insgesamt 42 Personen an den Grenzen bzw. im Grenzgebiet Deutschlands tot aufgefunden wurden. Überwiegend handelte es sich um Ertrinkungsfälle. 9 Menschen starben 1998 in Folge von Verkehrsunfällen. Bei 2 Personen war Unterkühlung die Todesursache, in einem Fall lag natürliches Herzversagen vor. Aus dem Fund eines Leichenteils wurde auf einen Ertrinkungstod geschlossen.

29 Todesfälle vermutlich durch Ertrinken, 9 Todesfälle in der Folge von Verkehrsunfällen, 2 Todesfälle durch Unterkühlung, 1 Todesfall Herzversagen, 1 Fund eines abgetrennten Unterschenkels mit Schuhwerk. Davon: Jugoslawisch 8, afghanisch 5, polnisch 4, deutsch 3, mazedonisch 2, bengla-deschisch 1, schweizerisch 1, senegalisisch 1, unbekannt 17.

Der zweite Abschnitt der Kleinen Anfrage: Wie viele Personen sind nach Kenntnis der Bundesregierung in den Jahren 1997 bis 1999 an den Grenzen der Europäischen Union insgesamt tot aufgefunden worden (bitte nach Datum und Ort des Auffindens, Nationalität des Opfers und Todesart bzw. Umstände des Todes aufschlüsseln)?Wie viele Todesermittlungsverfahren wurden diesbezüglich eingeleitet und mit welchem Ergebnis abgeschlossen (bitte aufschlüsseln)?

Die Bundesregierung : Keine Erkenntnisse.


Skandal »Hilfsbusiness« und Ärger mit Menschenrechtsuntermenschen

Nach der Proklamation der neuen, monopolaren Weltordnung im Anschluß des Wüstensturms in Mesapotamien kletterte der Ausdruck "Tittytainment" auf der Karriere-Leiter, den der alte Haudegen Zbigniew Brzezinski ins Spiel brachte. Der gebürtige Pole war vier Jahre lang Nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, seither beschäftigt er sich mit geostrategischen Fragen. "Tittytainment" sei eine Kombination von "entertainment" und "tits", dem amerikanischen Schlagwort für Busen. Der Wortschöpfer denkt dabei weniger an Sex als an die Milch, die aus der Brust einer stillenden Mutter strömt. Mit einer Mischung ans betäubender Unterhaltung und ausreichender Ernährung könne die frustrierte Bevölkerung der Welt schon bei Laune gehalten werden.

Parallel zum Aufstieg von Brzezniskis "Tittytainment" wurde auch das Heulen des NGO-Sturms lauter, der die Großmut der Freibeuter in eine postkolonisierte Kiste der "humanitären Hilfe" trieb.

Ob von gutem Willen oder schlechtem Gewissen gegenüber ihrem Klientel geleitet, mit dem Präfix "post" leisten die linksrennenden NGOs wie medico international, BUKO, iz3w u.a. zur zivilistischen Interpretation der abendländischen Großerzälung einen nur bescheidenen Beitrag. Die Kärrnerarbeit erledigt die Wall-Street-Intelligenz auf dem "Post"-Güterbahnhof mit dem Postkommunismus, wobei sie - welche eine Paradoxie - den Draht zur Marx-Bibliothek nicht unterbricht, die neoliberal konservative Revolution unter dem Label Globalisierung, Laisser-Passer-Totalitarismus, als Schicksal aufzudrücken. Verschleiert wird sie mit Begriffen wie Demokratie, Menschenrechte, Frieden, Ökologie, Gleichberechtigung u.a. im Kapitel der Heuchelei. Auch die antirassistische Linke sucht keinen Ort über "post" hinaus. Nach dem Postnationalismus fällt es ihr anscheinend schwer, ein "Danach" für Rassismus zu begründen wie etwa Postrassismus. Den Antirassismus gibt es nur, weil die Bourgeoisie ihn als Maske braucht, um ihre Maskerade von der Gleichheit aufzuwerten.

Der Postkolonialismus spricht die nordischen Nationen nicht nur von ihrer vergangenen Piraterie frei, sondern er stützt auch einen Zeitgeist, der den Taschendieb verpflichten soll, seinem Opfer ein Taschengeld zu lassen, damit der Zwist nicht im Gewaltakt mündet. Doch zum Höllenkrach kommt es trotzdem, wenn der eine gezwungen wird, dem Zuckerlecken des anderen in Überfluß ständig nur zuzuschauen. Gerade in diesem Konfliktraum definiert sich die Grundfunktion der NGOs - nicht als Akteure der "humanitären Hilfe", sondern als deren Doubles.

Als Fälschung erweist sich ihre Lobbying-Rolle für die Armen und Opfer. Echt ist sie vielleicht in den Eingangshallen der Weltbank, EU, UNO, Global Players oder Nationalstaaten, in denen sie als Subunternehmen untereinander konkurrieren - um die Mittel aus den Werbeetats. Wer schließlich das Geld gibt, läßt nach seiner Pfeife tanzen. Und das Hauptanliegen der institutionalisierten "humanitären Hilfe" liegt darin, einem winzigen Teil der globalen Elenden einen von Reklame-Kameras begleiteten Zugang zum Bettelstab zu ermöglichen, gleichzeitig aber die trikontinentale Armut wiederaufzubauen.

Hinzu kommt, daß die NGOs häufig auch als verlängerter Arm der nordatlantischen Allianz sowie Sicherheitsbündnisse funktionieren, die quer zu allen nationalen Grenzen in Schengenburg verlaufen. Für sie ist die Einhaltung von Menschenrechten ein Anliegen der Interessenpolitik, da Diktatoren als Schurken-Quarantäne der Primitiven gelten und als Produzenten von Flüchtlingswellen. Daraus wird Stück für Stück das Barbaren-Kopie der "neuen Völkerwanderungen" abgefertigt.

Was im Begriff Nichtregierungsorganisation auch immer stecken mag, ohne die Gelder, die Regierungen reichlich in ihre Beutel schaufeln, haben sie keine Existenzbasis. So sind sie "Partner" des Bundesministeriums für Entwicklungszusammenarbeit (BMZ): Evangelische Zentralstelle für Entwicklungshilfe, Diakonisches Werk der EKD/Brot für die Welt, Dienste in Übersee, Evangelisches Missionswerk, Christliche Fachkräfte International, Katholische Zentralstelle für Entwicklungshilfe, Misereor, Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe und Renovabis. Im Jahr 1997 wurde ihnen von der Bundesregierung 286,5 Mio. DM bereitgestellt. Hinzu kamen rund 2,9 Mio. DM für Projekte in Mittel- und Osteuropa.

Friedrich-Ebert-Stiftung, Konrad-Adenauer-Stiftung, Friedrich-Naumann-Stiftung, Hanns-Seidel-Stiftung, Heinrich-Böll-Stiftung erhielten im gleichen Jahr BMZ-Mittel in Höhe von 347,5 Mio. DM.

Und mit 70,4 Mio. DM gefördert wurden sonstige private Träger wie Aktion Friedensdorf, Andheri-Hilfe, Deutsche Welthungerhilfe, Arbeiterwohlfahrt, Deutscher Caritasverband, Deutscher Genossenschafts- und Raiffeisenverband, Deutscher Volkshochschulverband, Sozial- und Entwicklungshilfe des Kolpingwerkes e.V., Hilfswerk der deutschen Lions, Jugend Dritte Welt, Komitee Ärzte für die Dritte Welt, Kübel-Stiftung, Terre des Hommes, Weltfriedensdienst.

Die Zuwendungen des BMZ an den Deutschen Entwicklungsdienst lagen im Jahr 1997 bei 131 Mio. DM, an die Carl Duisberg Gesellschaft in Höhe von 123 Mio. DM.

Weiter stehen auf der NGO-Liste, die das BMZ fördert: ASA-Programm der Carl Duisberg Gesellschaft, Deutscher Akademischer Austauschdienst, Alexander von Humboldt-Stiftung, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, Goethe-Institut.

Die Fördersumme entspricht einem Anteil von ca. 10 % an den Gesamtausgaben des Entwicklungshilfehaushalts.

Eine Leistung, die es verdient, in den Obergeschoß-Kasten des Kontinuums gefeiert zu werden. Gefeiert wird die Marginalisierung des Gegenfeuers. Wenn die Hofphilosophen der monopolaren Weltodnung aber Verfassungsentwürfe für eine Weltgesellschaft basteln, müßten sie eigentlich für ein Weltsozialamt parlieren.

Höllenhund oder teuflischer Engel, über einen gewissen Stellenwert verfügt das Streitthema NGO-Gesellschaft, und gepäppelt wird sie, damit sie ein immer breiteres Publikum mit Erregungsreklame versorgt. Überwunden wird dabei "die Schwierigkeit, mit richtigen Argumenten nichts Falsches zu sagen", wie Jochen Hippler in "Freitag" vom 10. März 2000 einführend in seine Schlußbilanz zur Debatte im desselben Blatt formuliert:

NGOs als Gesamtkategorie sind fast nur eine Fiktion, sind ein Abstraktum ohne analytische Substanz. Der ADAC und medico international sind beide NGOs - sonst haben sie nichts gemein. Manche NGOs bestehen aus ein paar Freunden, die in der Ferne Gutes tun wollen. Andere dienen der gemeinsamen Kaninchenzucht, wieder andere sind zu globalen Konzernen herangewachsen, die kommerziellen Multis immer ähnlicher werden und auf dem Mitleidsmarkt um Marktanteile ringen. Andere verfolgen politische Ziele, manche wollen den Kapitalismus bekämpfen, andere ihn stabilisieren helfen. Sie sind groß oder klein, reich oder arm, mächtig oder handlungsunfähig. Ihre Zwecke sind sinnvoll, vernünftig oder idiotisch. Manche dienen vor allem der Bereicherung ihres Führungspersonals, wieder andere engagieren sich selbstlos und aufopferungsvoll für Andere, für Unterdrückte oder Schwache. Manche sind bloße Dienstleister, viele hängen am Tropf des Staates und sollten gar nicht NGO genannt werden. ...

Die Verteidiger "der NGOs" verteidigen meist nicht diese, sondern ihr eigenes, romantisiertes Bild von ihnen, und die kritischen Kritiker haben alle Hände voll zu tun, Pappkameraden aufzubauen, um sie dann wieder flachzulegen. Dabei wollen wir lieber nicht stören. Wenn die Freitag-Debatte ein Ergebnis hatte, dann dies: die Probleme der NGOs liegen auf zwei Ebenen - einmal im Detail ihrer konkreten Arbeit, wo es genug Konflikte, Illusionen, Verdienste und Versagen gibt. Und zweitens darin, dass sie immer wieder als Projektionsfläche herhalten müssen, um mal als Finsterlinge, mal als Lichtgestalten zu dienen. Beides ist sicher gut gemeint, überfordert und überschätzt die NGOs aber. Die Realitäten sind viel trivialer.

"Weltmacht NGOs?" fragt sich Wolfgang Ehmke im gleichen "Freitag" und fügt hinzu: "NGOs operieren zwar weltweit, aber weitgehend ohn-mächtig. Das macht sie nicht überflüssig. Sie repräsentieren humanistische Werte, sie sind das soziale und ökologische schlechte Gewissen saturierter Gesellschaften. Das ist wertvoll." Und wie? Oder sind sie nichts anderes als ein Spiegelbild imperialer Machtstrukturen? Genau diese Schlußfolgerung zieht der Autor aufgrund weiterer Fragen: "Aber sind sie auch die Keimform einer neuen Zivilgesellschaft? Welche Werte repräsentieren sie? Wenn nur diejenigen NGOs am Verhandlungsmarathon in Kyoto auf der 3. UN-Klimakonferenz 1997 durchhalten konnten, die selbst finanzstark genug sind?"

Und an einer anderen Stelle mit Nikaragua als Beispiel stellt Katja Maurer in der "kritischen Nothilfe" einen "Drahtseilakt" fest:

Humanitäre Hilfe und die NGOs, die sie praktizieren, sind ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. In vorderster Front stehen die Medien, die nun das »Hilfsbusiness» als Skandal enthüllen, obwohl sie durch die Medialisierung der Gesellschaft und unter weidlicher Ausschöpfung des Quotenrenners Katastrophen-TV dieses erst mit erzeugt haben. ...

Die humanitäre Hilfe hat nicht erst im Kosovo ihre Unschuld verloren. Und auch die NGOs, egal ob aus dem kirchlichen Spektrum oder eher aus dem linken Milieu, tragen schwer an der Last, die ihnen nach dem Ende des Kalten Krieges in überschwänglicher Globalisierungseuphorie von anderen aufgebürdet wurde: Sie nämlich sollen angesichts eines außer Rand und Band geratenen freien Markts die Demokratie retten und für eine gerechtere Weltordnung sorgen. Diese Anmaßung haben die NGOs nicht zu verantworten. Ähnlich wie die humanitäre Hilfe werden sie mit dieser Rollenzuweisung zum Ablageplatz für das schlechte Gewissen einer Weltgesellschaft, die im Zuge der Globalisierung droht, jeden sozialen Gedanken aufzugeben. Bei allem berechtigten Unmut über Selbstanmaßung und NGOisierung des Entwicklungsgedankens - hier muss sich Kritik doch zuallererst an andere Adressaten richten. ...

Dass diese Überflutung mit internationalen Hilfsaktionen zu problematisieren ist und manchmal mehr schaden als nutzen kann, ist unter den NGOs Konsens. In einer von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachteten Diskussion hat man längst gemeinsame Standards für den Umgang mit solchen Notsituationen entwickelt. Ist damit die humanitäre Nothilfe gegen Kritik gefeit? Mit den Bildern von den Katastrophen werden auch gleich die Bilder von der schnellen Hilfe in die Haushalte der Geberländer geliefert. In der Suggestion, dass jede Katastrophe durch Hilfe zu kontrollieren und zu bewältigen sei, liegt das eigentlich Fatale. Denn die Gewährung und Ausgestaltung der Hilfe des »Nordens» ist zu einer Frage der Einschaltquote geworden. Da geht es nicht nur darum, ob die EU-Fahne im Bild ist, wenn die Hilfsgüter geliefert werden, sondern auch darum, wann, wem und wie lange geholfen wird.

Durch die Medialisierung hat sich der Druck der Geldgeber auf die Hilfsorganisationen erheblich verstärkt, sehr schnell vorzeigbare Ergebnisse zu liefern. Genau das geschah auch in Nikaragua. Häuser und Latrinen wurden zum Teil so provisorisch und im Schnellverfahren errichtet, dass sie die nächste Regenzeit nicht überstehen konnten. Unter dem Druck der Einschaltquote und der Geber ist dies zwar Hilfe in der Not, die aber ihre Notwendigkeit wieder selbst reproduziert. Solange humanitäre Hilfe nur die Armut wiederaufbaut, ist der nächste Einsatz humanitärer Hilfe absehbar.

Um sich den Luxus zu leisten, Appelle zu verteilen, braucht man nicht nur Erhabenen-Moral, sondern die materielle Macht. "Nun spenden wir wieder" - so überschreibt Wolfgang Thielmann in "Rheinischer Merkur" vom 10. März 2000 sein Plädoyer für eine "faire Chance", die Afrika nötiger als "Eingreiftruppen" brauche:

Wir spenden wieder, gern und reichlich. Als die Kameraleute in südafrikanische Hubschrauber stiegen und filmten, wie die Besatzungen Flutopfer in Mosambik von Dächern, Bäumen und aus dem Wasser holten, darunter das in einer Baumkrone geborene Kind, und als sie sagten, weitere Hubschrauber würden gebraucht, lief die Maschinerie an. Die Bundeswehr flog hin, der Bundesgrenzschutz. Spendenkonten wurden in die Nachrichten eingeblendet. Jetzt helfen wir, nackte Menschenleben zu retten. Jetzt diskutieren wir darüber, ob man nicht eine humanitäre Eingreiftruppe aufstellen müsste.

Jetzt wird es vielleicht sogar möglich sein, über die Unterstützung des Wiederaufbaus zu sprechen, bevor die Kameras wegschwenken. Vielleicht ergibt sich auch eben noch die Chance, darüber zu informieren, dass ein Land wie Mosambik mit seinen 19 Millionen Einwohnern pro Kopf nicht einmal ein Zwanzigstel des deutschen Bruttoinlandsproduktes erwirtschaften kann und dass es kaum eine Chance auf dem Weltmarkt bekommt, der für Länder wie dieses so frei nicht zugänglich ist. Dass an Katastrophenschutz etwa kaum zu denken ist. ...

Die Armenhäuser des globalen Dorfs liegen noch weit abseits. Bei Hochwasser kommen wir. Wenn das Fernsehen es zeigt.

Es ist die Erfahrung der Hilfsorganisationen, dass man in aller Regel vergeblich vor Katastrophen warnt, dass Aufmerksamkeit oft erst dann zu bekommen ist, wenn sich Kameras auf sterbende Menschen richten. Dass dann mitunter Summen verfügbar sind, die für Vorbeugung und wirtschaftlichen Aufbau nie zu erhalten waren.

Die westliche Welt ist mit dem Aufbau Ost beschäftigt. So nötig er ist, er geht zulasten der südlichen Erdhalbkugel. Die Bundesregierung hat die Entwicklungshilfe zurückgefahren und die Unterstützung der kirchlichen Initiativen, die sehr effizient arbeiten, beschnitten.

Das ging, weil das Interesse am internationalen Ausgleich überdeckt wurde durch die Angst vor dem schnellen wirtschaftlichen Wandel. Die Spenden zeigen aber eine Bereitschaft zum Helfen. Politische Entscheidungen müssen dazukommen. Die armen Länder brauchen vor allem eine faire Chance, noch nötiger als eine Eingreiftruppe.

Bei den "Freitag"-Gedanken vom 10. März 2000 geht es Stefanie Christmann nicht um die NGOs als das gute Gewissen der übersatten Spender-Domäne, sondern um "Alien oder Parasit" nach der Naturkatastrophe in Mosambik:

Während die Endeavour tagelang den Globus umkreiste, um dreidimensionale Landkarten zu erstellen, stieg den Menschen in Mosambik das Wasser bis zum Hals. Und höher. Auswärtigem Amt und Entwicklungshilfeministerium war bekannt, dass die Katastrophe kommen würde; sie kennen das Armenhaus im Süden Afrikas auch gut genug, um zu wissen, dass es bei einer solchen Naturkatastrophe völlig auf ausländische Hilfe angewiesen ist. Zuständig für humanitäre Katastrophenhilfe ist das Auswärtige Amt. Joseph Fischer, sehr darauf bedacht, die Bundeswehr als Teil einer Weltpolizei zu profilieren, hat für Feuerwehreinsätze weniger übrig. Das Problem, Transportflugzeuge für Hubschrauber zu finden, wurde nicht kollegial und rasch unter befreundeten Staaten gelöst.

Die Globalisierung, der auf losgelöste Teile fokussierte, reduktionistische Blick der westlichen Wissenschaft und die Technik nähren partiell den Wahn, Herr über die Natur zu sein. Aber das Wissen um die wahrscheinliche Rache des archaischen Widerparts kann nicht unterdrückt werden. Katastrophen wie jetzt in Mosambik nehmen an Zahl und Stärke zu. Mehrere Faktoren sind Ursache für Klimaveränderungen. Den Ausbruch des Pinatubo kann der Mensch nicht verhindern.

Kein Gedanke daran, dass jeder Mensch dasselbe Recht auf Naturnutzung hat. Sondern diejenigen, die pro Kopf am wenigsten verbrauchen, werden zur drohenden Ursache erklärt. Diesmal geht es nicht um "Lebensraum", sondern um Verbrauchsrechte, aber der Anspruch ist gleich: Eine "Rasse" oder eine "Zivilisation" setzt sich absolut. Während die Opfer der wesentlich vom Norden verursachten Klimaveränderungen in Baumwipfeln ums Überleben kämpfen, schaffen das Worldwatch Institute und die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung neue Feindbilder: Absolute Zahlen verschweigend, manipulieren sie öffentliche Meinung mit Steigerungsraten und entwerfen das Drohszenario, das Bevölkerungswachstum in Entwicklungsländern führe zu einer Energienutzung, die den Globus gefährde. Wer in "Das Boot ist voll"-Kategorien denkt, müsste aufgrund des Pro-Kopf-Verbrauchs bevölkerungspolitische Maßnahmen für den Norden fordern. An der dringenden Notwendigkeit, eine solare Weltwirtschaft für alle zu etablieren, würde aber auch das nicht vorbeiführen.


Humanitas-Groteske zwischen Tragödie und Komödie

Nicht nur Xenophobisten, sondern auch Philolobbyisten tragen ihren Beitrag dazu bei, das Phänomen des Fremden zu fördern als Symptom der Moralpauke im Rampenlicht der Selbstinszenierung. Ob als Menetekel für die Alarmglocken gegen die Invasion der Parias oder als traditioneller Malocher, willkommen ist er, solange er sich den Gesetzen der Entfremdung nicht widersetzt.

Den Fremden muß man nicht unbedingt hassen, man soll ihn aber auch nicht lieben. Sonst ist er nicht mehr fremd, nicht mehr gefährlich, vor allem aber nicht mehr verwertbar und hat keinen Wert, konsumiert zu werden. Fremd ist der Fremde nur dort, wo er sich unter Nichtfremden befindet.

Ohne den Fremden gibt es weniger Markterreger, mehr Erwerbslose - abgesehen von seinem Nutzeffekt im Nazireich und Erhards Wirtschaftswunderland. Ohne den Fremden hätte es die eurokontinentale Erregungswelle gegen den aparten Jörg Haider vom Austria-Plateau nicht gegeben, der nichts anderes tat, als aus dem EU-Repertoire ein Einwanderungskontrollgesetz kopieren zu wollen. Aparthaider wird er deswegen genannt, und Apartheid ist, wenn eine Nation über bestimmte Bevölkerungsteile in ihrem Territorium das Fremdenrecht verhängt - welches Recht das dem Fremden auch immer einräumen mag.

Den Tadel verdiente der Alpen-Tribun auf der abendländischen Kultur-Tribüne nicht wegen seiner Schwatzblasen gegen die Überfremdung des Hochebenen-Deutschtums durch die wilden Barbaren, sondern wegen seiner gelegentlichen Spucke auf die neoliberale Wertkette mit verwirrendem Hinundher, wobei die Substanz seines Staatskunstverständnisses im Neoliberalismus reinsten Wassers liegt.

Jedenfalls suhlen manche Plattformen der pluralistischen Einheitspartei mit dem Sand. Ein virtueller Faschismus droht, lautet die Botschaft aus dem Marionettenbunker der Börsenoligarchie. Verführerisch kommt sie an bei linken Demo-Strategen und Memo-Stars, die bürgerliche Demokratie zu retten - mit Ethno-Erotik, Exoten-Ästhetik, Folklore-Foren, Pascha-Passagen, Anti-Patriarchen-Parties, Kopftuch-Kopien...

Mit Konfetti und Pailetten wird der Fremde überschüttet, in Mehmet-Aliens verwandelt und freigegeben für den Deportationsvollzug. Und er findet meist dort statt, wo die Apartheid endet, auf der Luftlinie.

Den Präpotenten der völkischen Homogenität und hegemonialen Intensität geht es nicht um den fremdenfreien Volkssaat, sondern um die Exekution der Durchrassung, durch rechtsstaatliche Mittel mit einer neuen Qualität natürlich: mit der Deutschprüfung in den Einbürgerungsbehörden.

Erhalten muß bleiben auf jedem Fall das Fremdenreservat. Auch für die Pflege der Unisono-Volksmeinung. Zwei Drittel der Jugend im Osten empfindet den Ausländeranteil zu hoch, publizierte das Shell-Studie-Büro "Jugend 2000" vom Frühjahr, 60 Prozent im Westen. Zu hoch wird dieser Anteil auch bleiben, solange der Gebrauch der strukturellen Apartheid von der Anstalt der Selbstzensur attackiert und erledigt werden kann.

Der Spiralbohrer der Meinungsproduktion dreht sich ohne Widerstand. Die Gelehrtensozietät wartet und überwacht den Roboter, der ihn bedient. Die Volkstribunen bewundern die Ergebnisse, die die Medien verbreiten, der Gesamtstammtisch des Stammeswesens konsumiert sie. Die Xenophilie-Szene auf dem Nischenmarkt der Erregungsprojekte für das friedliche Zusammenleben feiert ein Fest nach dem anderen, appelliert an Toleranzmoral und mokiert sich über den Aparthaider.

Als einen inkarnierten Avatar stellen sich ihn, den Alpen-Alben, seine Widerstreiter vor, als einen Präpotenten, der sein Image aus Erwartungen und Projektionen komponiert. Die latente "Unheimlichkeit" des Avatars ergebe sich, meinen sie, aus der Unmöglichkeit, ihn mit "Eigentlichkeits"- oder Identitäts-Fragen zu konfrontieren. Gewiß, ein Avatar kann nicht wissen, wer er ist. Aber wer konstruiert die Gemeinde, die ihm folgt?

Der Aparthaider ziehe ein Laserschwert aus einem Star Wars-Computerspiel, meinen wiederum andere Erzähler, wenn er zum Duell herausgefordert wird, wobei es darauf ankomme, ob Laserschwerter lediglich aufgemotzte Neonröhren sind oder nur als gefährliche Waffen erscheinen.

Es ist nur ein Spiel, meint dagegen der Fremde, und jemand muß die Anti-Rolle im abendländischen Kulturalismus-Zwist übernehmen, auch die Rolle dessen letzten Mohikaners zugleich, eines reinblütigen Almrosen-Patrioten. Haider ist, wie man ihn haben will - in den philofemisitischen Schützengräben auch Führer eines homoerotischen Männerbunds, der bewußt mit homophilen Codes arbeitet, ohne sich als homosexuell bekennen zu müssen.

Ein Aparthaider, der als Kärnten-Fürst die Sprache seiner slowenischen Untertanen lernt? Völlig anders als - beispielsweise - bei den bajuranischen Weißwurst-Patrioten, die sich mit ihrer Leistung brüsten, den Pizza-Döner-Kosmopolitismus zu dulden, vorausgesetzt jedoch, daß er keine "Parallelgesellschaften" stützt und in deutscher Zunge aufgeht.

Besonders gern hat man den Fremden, weiß der Fremde, im Parkett vor den gutbürgerlichen Rassismus-Podien. Hier lernt er am einfachsten, daß die Xenophobie ein eingeschleustes Fremdwort ist, die es gilt, scharf zu beobachten, streng zu kontrollieren und im Ernstfall entschlossen anzugreifen. Verfassungspatriotisch freilich. Und freiheitlich, denn es geht darum, den Fremden zu manipulieren, ihn als Heiducken, als freiwilligen Söldner nämlich, zu rekrutieren - zur Verteidigung der nordischen Gutsherrenburg gegen die Invasion der globalen Leibeigenenheere, vor allem gegen den Oriental-Patriarchalismus.

Der Fremden-Bildwerk besitzt einen besonderen Reiz-Platz in der Ideologie-Galerie des deutschen Kuluralismus - als standfestes Modell für das Wettmalen jenes Phantombildes, das die "innere Sicherheit" gefährdet sowie "das erneuerte Bündnis von Mob und Elite" vorantreibt, auf das Uli Krug im Antideutschen-Organ "BAHAMAS" 31/2000 aufmerksam macht:

Auf den ersten Blick jedoch scheint zumindest ein großer Teil der Alt-Bundesbürger sich von diesem, autoritären Traditionsmodell beträchtlich entfernt zu haben. Der demokratische Musterknabe Alt-BRD (d.h. abzüglich seines “rückständigen” Anhängsels) kann mittlerweile auf Vorwürfe, besonders autoritär, besonders nationalistisch oder besonders rassistisch (deutsch eben) zu sein, mit dem ausgestreckten Finger (und das mit einer gewissen Vorliebe) nach Frankreich zeigen. Dort sitzen die wahren Etatisten mit ihrem elitären Bildungssystem, ihrem Anti-Amerikanismus, ihrer “Front National”. Das, was sozialdemokratische Historiker einmal als integralen Bestandteil des “deutschen Sonderwegs” bezeichneten, sozusagen die hardware von Antisemitismus und Rassenwahn, ein “gestörtes Verhältnis” zur Marktwirtschaft und zur Spekulation, mit einem Wort zum Finanzkapital, und ein übermäßiger Etatismus, ein Versessen-Sein auf Regulierung – wird das heute nicht in größerem Maße links des Rheines praktiziert? Als ob da nichts gewesen wäre mit dem historisch einmaligen Versuch, sich des “jüdischen Prinzips”, der Spekulation, der Zinsknechtschaft, des Gewinns ohne Mühe und Rücksicht aufs Gemeinwohl zu entledigen, jagt eine Privatisierungswelle die andere und hat die Volksaktie (Telekom) den Volkswagen als nationales Symbol ersetzt. ...

Der Faschismus als populistische Bewegung kann auch im anti-etatistischen Gewand auftauchen, nicht um die Herrschaft selber in Frage zu stellen, sondern um ihre institutionelle Mäßigung abzuschütteln. ...

Haiders Agitation – wie die der so ungleich respektierlicheren Politwissenschaftler – gegen den “Parteienstaat” kombiniert und variiert zwei Grundkomponenten: Die volkkstümliche Konkretiesierung von Herrschaft, das Abstellen auf ihre Unmittelbarkeit im Gegensatz zur repräsentativen Demokratie und den Rückzug des paternalistischen Interventionsstaates. Basisdemokratisch im Sinne von “Volkes Stimme”, “populistisch”, war der Faschismus von jeher. Der Verzicht auf die Staatskonjunktur aber widerspricht dem Bild des klassischen Faschismus. Haiders Erfolg liegt gerade darin begründet, daß es ihm gelingt, den Haß auf das Abstrakte zu nutzen, gleichzeitig aber den Faschismus von seinem sozialdemokratischen Vexierbild zu lösen, den militarisierten Interventionsstaat durch den militanten “schlanken Staat” zu ersetzen. ...

Die klassische Projektionsfläche “Jude” ist deswegen in keiner Weise vergessen worden; dennoch scheint das modernisierte, auf den Abgabenstaat konzentrierte Ressentiment anders justiert zu sein als sein historischer Vorläufer: Nämlich auf die “übermäßige” Konsumtion der vom Staat jenseits des a) unbedingt Lebensnotwendigen und der b) “richtigen” Volkszugehörigkeit subventionierten Klientel: Ausländer, Künstler, Parteien (hier tauchen dann auch die vom Staat “gehätschelten” Juden wieder auf). So funktioniert die zeitgemäße, negative Bestimmung des Völkischen (“Wer ruiniert den Steuerzahler?”), gegen die “multikulturelle Überfremdung, gegen die Bonzen in Bürokratie und Parteienkartell, gegen die freischwebenden Intellektuellen” (Zeit 8/2000). Besonders perfide formuliert es die “FAZ”: “Die Protestaktionen auf den Straßen Wiens geben Marx recht, der das gesellschaftliche Bewußtsein auf das gesellschaftliche Sein zurückführte: Staatskünstler bangen um Subventionen, Sozialingenieure um staatliche Aufträge, Projektbeauftragte um bereits genehmigte Projekte, und das alles im Zeichen des Kampfes gegen den Faschismus.” (FAZ, 12.2.2000) ...

Vorbei die Zeiten, als die Leitartikel die Quintessenz der Sozial- bzw. Staatsbürgerkunde echoten und sowohl betulich auf den Vorbehalt des GG gegen direkte Demokratie hinwiesen als auch auf der Formalisierung des staatlichen Handelns bestanden; das Plebiszit fordern nun auch die Sprachrohre von Bildungsbürgertum und BDI. Der geforderte Kein-Parteien-Staat ist in Wahrheit die Reprise des Ein-Parteien-Staates des Nationalsozialismus, mit all seinen informellen, plebiszitären Strukturen, die Staat und Volk tatsächlich werden ließen – zum Gemein-Wesen.

"Was allein macht die Würde des Menschen aus?" fragt sich Eberhard Straub in "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 18. März 2000 und schmiedet eine Wertekette, mit deren Hilfe er versucht, "die Fremdherrschaft der Werte" zu markieren:

Europa ist ein ökonomischer Großraum. Eine Europa-Idee, von der unmittelbar nach dem Kriege viel die Rede war, hat sich verflüchtigt. Damals gab es noch Erinnerungen an das Abendland, sogar an das christliche Abendland. Aber sie wurden alsbald der Lächerlichkeit preisgegeben und verdunsteten allmählich. Mehr belästigt als belastet von den vielen umschatteten Vergangenheiten retteten sich die Europäer in die angeblich unproblematische Wirtschaft und wirtschaftliche Zusammenarbeit, um eine schönere Zukunft zu erreichen, in der das Leben wieder lebenswert ist. Das hieß, Werte zu schaffen, die den Lebenswert erhöhen. Insofern ist es nicht weiter verwunderlich, wenn gerade Deutsche mit Inbrunst Europa als "Wertegemeinschaft" beschwören. Das entspricht vollkommen den ökonomischen Erwartungen, Werte zu schützen, zu sammeln, sie einzusetzen, mit ihnen zu arbeiten, gar zu wuchern. Schließlich sind Werte wertvoll. Wertverluste können das Leben um den Lohn der unermüdlichen Wertarbeit bringen. Doch die ergeben sich nur, sobald Werte nachlässigerweise falsch bewertet wurden. Jeder sollte seinen Wert, seinen Preis kennen, um nicht unter Wert gehandelt, behandelt, gekauft oder verkauft zu werden. Wer seinen Selbstwert gar nicht kennt, soll sich nicht beklagen, wenn auf ihn kein Wett mehr gelegt wird. Den Marktwert der Werte muss jeder bedenken, um nicht auf falsche Werte zu setzen und seinen Kurs abzuwerten oder gar vollständig zu entwerten. ...

Werden Menschenrechte, die Freiheitsrechte sind, zu Werten, dann unterliegt die Freiheit des Menschen, die gottgegeben, also unveräußerlich ist, wie der Christ vermuten darf willkürlichen inhaltlichen Übereinkünften beliebiger Wertsetzer. Denn Werte sind beliebig. Die Freiheit des Menschen ist nicht beliebig. Deswegen schützt sie der Staat, nur befugt, die ungeheure Freiheit des Einzelnen mit der nicht minder unermesslichen Freiheit des anderen verträglich zu machen. Wäre die Freiheit des Menschen, sein Menschenrecht, ein Wert, dann ließe sich dieser, wie jeder Wert, umwerten, abwerten, entwerten, gegebenenfalls aufwerten, wie die Konjunktur der Werte es erlaubt. Die Freiheit würde zum Opfer der verwertenden Wertekonkurrenz. Werte gelten oder verlieren ihre Gültigkeit, wenn derjenige, der sie geltend machen will, vor anderen zurückweichen muss, der erfolgreich seinen Werten Geltung verschafft. Der höhere Wert will, ganz verständlich, den minderen ausschalten, ihn um seine Wirksamkeit bringen. Es sind aber jedes Mal Menschen, die darüber befinden, was wertvoll oder minderwertig ist. "Wer ihre (der Werte) Geltung behauptet, muß sie geltend machen. Wer sagt, daß sie gelten, ohne daß ein Mensch sie geltend macht, will betrügen" (Carl Schmitt). Im Namen der Werte kann der Mensch unter dem Druck der Wertsetzer ebendas verlieren, was seine Würde ausmacht: die Freiheit. ...

Werte sind nicht neutral, weil interessierte Menschen, Gruppen, Parteien im Wettbewerb untereinander ihren Werten Anerkennung verschaffen wollen. Sie bestimmen darüber, was ein Wert oder ein Unwert ist. Darüber kann ein Mensch unter die Räder kommen, das kann Klassen und Rassen um ihr Leben bringen. Gerade das soll in einer Wertegemeinschaft verhindert werden. Legt sie aber die Werte fest und verpflichtet die freien Menschen auf ihre Werte und deren Inhalte, dann begibt sie sich unweigerlich auf den abschüssigen Pfad, der unter Umständen zur Tyrannei der Werte führt. Einer Tyrannei, die, wie das zwanzigste Jahrhundert drastisch bestätigte, die grausamste Willkürherrschaft erlaubt, weil sie sich ein Urteil auch noch über den Lebenswert des Einzelnen anmaßt und lebensunwertes Leben ausmerzt. Der Mensch, nur noch als sachlicher Wert betrachtet, hat seine Würde eingebüßt. Wenn es nur noch Werte gibt, erübrigt sich die Würde, dann begegnen sich nur Wertvolle und Wertlose, Werthaltige und Wertverwahrloste, oder sie prallen aufeinander. Das sind die Konsequenzen humaner Wertsetzung. Denn jeder Wert hat - wenn er einmal die Macht gewonnen hat über eine Person die Tendenz, sich zum alleinigen Tyrannen des ganzen menschlichen Ethos aufzuwerfen (Nicolai Hartmann). Wer von der Wertegemeinschaft spricht, möchte glauben machen, Werte würden von sich aus herrschen, sie stünden über der Irrtumsanfälligkeit des Einzelnen. Darin liegt der Irrtum, Betrug und Selbstbetrug aller Wertsetzer und Wertentwerter, was ein und dasselbe ist.

Insofern gewinnt kein Recht und keine Freiheit höhere Sicherheit, wird sie zum Wert erhoben. Das gilt auch für die Demokratie. Sie ist eine Organisationsform. Das genügt vollständig. Eine Organisationsform sagt nichts aus über Werte und Inhalte. Sie soll freie und öffentliche Diskussion im Gesetzgebungsstaat mit seinen Mechanismen ermöglichen. Worüber diskutiert wird und welche Inhalte ein Gesetz festlegt, das bleibt den freien Bürgern überlassen. Wird die Demokratie zu einem Wert, empfängt sie darüber keine vermehrte Lebhaftigkeit oder stärkere Überzeugungskraft. Sie verwickelt sich nur ihrerseits in die Spannungen, die von Wertorientierungen ausgehen. Im Namen der Demokratie können Wohlfahrtsausschüsse, in denen die Wertbewussten sitzen, über all die herrschen, die noch nicht sämtliche demokratischen Werte "angenommen" haben. Die besseren Demokraten schützen die unvollkommenen gleichsam vor sich selber, indem sie diese unzulänglichen Bürger zu ihrem Heil vor den Folgen ihrer wertlosen "Unterentwicklung" bewahren. Aus der Demokratie kann unter solchen Voraussetzungen eine Erziehungsdiktatur werden, wie sie ja nicht nur die Jakobiner der Französischen Revolution für sich in Anspruch nahmen. ...

Die Demokratie als Wert bildet keinen zum aufrechten Demokraten. Der Einzelne lernt darüber nur die Demokratie zu bewerten, was ihn vielleicht wertebewusst macht, jedoch nicht zum Demokraten umwandeln muss. Französische Revolutionäre hofften, dass die Tugend in der Republik herrschen werde. Wer die Tugenden lebt, wird als durch Tugend Freier ebenden Freistaat mächtig beleben, mit freiem Leben erfüllen. Dann hängt alles auf Gedeih und Verderb vom Einzelnen ab und von seiner Bereitschaft, sich den Lastern zu verschließen. Wie oft wiederholt wird, beruht die Demokratie auf Grundlagen, die sie nicht selber geschaffen hat und die sie aus sich heraus gar nicht zu erhalten vermag. Zum "wehrhaften Demokraten", wie Deutsche den guten Demokraten nennen, wird man deshalb über Einübung seiner sittlichen Freiheit. Dazu verhelfen die Lehren der Alten, die Religion, neuere und frühere Philosophen, Dichter und Künstler, kurzum all jene, die ihren würdigsten Beruf darin erkannten, edlen Seelen vorzufühlen und zu deren Veredelung beizutragen.

Es ist die Bildung zu allgemeiner Menschlichkeit, die Humanität, also Freiheit, verheißt. Aber gerade ihr vertrauen jene wenig, die Freiheit und Menschenrechte zu Werten erheben. Ihr Wert ist nämlich umstritten, vielen gilt er als fragwürdig. Klassisch-historische Bildung hat allerdings nicht mit Werten zu tun. Sie vermittelt vielmehr Kriterien zur Urteilsbildung, der notwendigen Bedingung individueller Freiheit. Denn diese äußert sich in Handlungen, die auf eigenem Urteil beruhen. Oder auch nicht, da der Mensch die Freiheit besitzt, auf Handlungen zu verzichten oder seiner eigenen Einsicht entgegen zu handeln. Es gäbe weder Tragödien noch Komödien, verhielten sich die Einzelnen anders. Sein Dilemma bleibt allemal, sich gar nicht für das Gute entscheiden zu können, wenn ihm nicht die Wahl für das Böse bleibt. Sonst wäre sein Tun kein Akt der Freiheit, sondern das Ergebnis höheren Zwanges unter dem Druck flatterhafter Wertsetzer. Die klassische Literatur verdeutlicht, wie einer als "valiente", tapfer beherzt, mutig lebt oder es unterlässt, so zu leben. Die spanische Ableitung von valor, Wert, wie die italienische "valoroso", verweisen auf den tätigen Menschen als freien Bewerter der Lebensmächte. Sie erinnern an dessen Würde, mehr zu sein als ein funktionsgerechtes Elementarteilchen im übergeordneten Wertesystem, welcher Art auch immer.

Die Beschwörung einer "Wertegemeinschaft" verrät mehr Unsicherheit als Selbstgewissheit. All unsere politischen Begriffe sind historische Begriffe. Sie wurden gebraucht und verbraucht. Während des langen Spiels, Begriffe zu versenken, verlor sich deren Überzeugungskraft. Sie büßten ihre Substanz ein. Sie verkümmerten zu bloßen Redensarten, zu Worten, denen die angeblich hinter ihnen liegenden Werte plötzlich wieder zu verpflichtender Kraft verhelfen sollen. Werte werden zum Ersatz für die verlorene Metaphysik. Über Werte soll eine ganz innerweltliche, praktische Organisation von Staat und Gesellschaft Weihen, Heiligkeit empfangen. Bezeichnenderweise greifen die Wertfrohen auf ein in Deutschland sonst nicht mehr geschätztes Wort zurück: auf die Gemeinschaft. ...

Wir haben lange gelernt, dass Gesellschaft der Raum der diskutierenden Vernunft ist, dass Gemeinschaft undemokratische Irrationalität bedeutet, wie sie sich in der Blutsgemeinschaft oder Volksgemeinschaft rabiat auslebte. Auf einmal wird Gemeinschaft zum Wert, sogar als Wertegemeinschaft zu einem Höchstwert. Sie gibt sich eine Feierlichkeit wie Communio, die Gemeinschaft der Gläubigen, wie die Kirche. Demokratische Werte sollen plötzlich wie sogenannte Glaubenswerte gelten, ja geglaubt werden. Wer nicht fest im Glauben steht oder nur den Verdacht auf sich zieht, ein Glaubensschwacher zu sein, begibt sich in Gefahr, wie ein Heterodoxer, wie ein Häretiker behandelt zu werden. Die Reinheit des Glaubens muss dann vor jeder Bedrohung durch Unreine gesichert werden. Das sanctum officium, die Inquisition, wiedereinzuführen. das wäre die letzte Konsequenz einer wehrhaften Communio all derer, die sich im Namen der Werte zu demokratischem Dienst lobend und preisend versammeln. Das war allerdings nicht das Ziel mannigfacher Aufklärungen, die Staat und Gesellschaft als ein Reich der weltlichen Selbstbestimmung von ihr widersprechenden Einflüssen frei halten wollten. Es ging immer nur darum, dem freien Menschen es selbst zu überlassen, seinen Freiheitsraum zu hegen und seiner Verantwortung zu überlassen.

Eine Wertegemeinschaft als Glaubensgemeinschaft wendet sich gegen die Errungenschaften aller Freiheitsbewegungen der europäischen Geschichte. Sie versucht deren Siege rückgängig zu machen. Sie ist daher Ausdruck reaktionärer Sehnsüchte.

   

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