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Die Ostdeutschen haben nach ihren jahrzehntelangen negativen Erfahrungen
mit dem DDR-Staat eine zweite Enttäuschung mit dem westdeutschen
Staat erlebt. Dies ist, vereinfacht ausgedrückt und auf einen
Nenner gebracht, die Grundsituation gut fünfzehn Jahre nach
dem Fall der Mauer. Im Mittelpunkt dieser doppelten Enttäuschung
steht der Begriff Freiheit. In den langen Jahren der SED-Diktatur
wurde sie sehnsuchtsvoll erwartet, ihre Abwesenheit schmerzlich
empfunden. Als sie endlich da war, brachte sie nicht, was man sich
von ihr versprochen hatte. Oder nur einen Teil davon. Welches sind
die Gründe für diese Desillusionierung? Der erste war,
daß der Prozeß der Wiedervereinigung von Anfang an im
wesentlichen von dem westdeutschen Staat, den westdeutschen Parteien
und den westdeutschen Konzernen bestimmt wurde. Dieselben ostdeutschen
mündigen Bürger und Bürgerinnen, die es gescharrt
hatten, aus eigener Kraft der SED-Herrschaft ein Ende zu setzen,
wurden bald von Westdeutschland weniger als gleichwertige Partner
denn als unmündige Untergebene behandelt. Sie waren gewiß
frei, die Neubundesbürger, und dennoch gerieten sie sofort
in eine neue Abhängigkeit. Man hatte es in Westdeutschland
eilig, klar zu stellen, wer Herr im Hause war, wer das Sagen hatte.
Deshalb zögerte man nicht, die Vereinigung durch Machtpolitik
zu beschleunigen, eine Machtpolitik, die diesmal nicht gegen einen
äußeren Feind, sondern gegen die eigenen Landsleute gerichtet
wurde. De jure verlief freilich alles in korrekten Bahnen, de facto
war es im Grunde ein Diktat. So empfand es auf jeden Fall ein beträchtlicher
oder gar mehrheitlicher Teil der 17 Millionen Ostdeutschen. Ähnlich
fühlte ich als außenstehender, aber keineswegs gleichgültiger
Beobachter. Die Überwindung der geopolitischen Spaltung kam
nicht durch einen Dialog unter Gleichen zustande, sondern ähnelte
mehr einer Okkupation und einer Machtdemonstration gegenüber
dem schwächeren Partner. Daß in diesem Zusammenhang der
Einigungsvertrag gelegentlich mit dem Ermächtigungsgesetz verglichen
wurde, war bezeichnend genug, auch wenn der Vergleich überzogen
und rein sachlich inakzeptabel war. Aber genauso unzutreffend war
es, die DDR-Diktatur mit der Naziherrschaft in einen Topf zu werfen,
wie es nicht wenige Deutsche aus West und Ost taten. Dazu wäre
mit Friedrich Schorlemmer zu sagen: „Ich fühlte mich
von meinem 17. bis 45. Lebensjahr in der DDR eingemauert, und ich
schämte mich für das Land, aus dem ich kam. Aber ich war
und bin froh, daß ich nicht im Dritten Reich habe leben müssen,
auch wenn es schwer war, in Ulbrichts Mauerstaat ein eigenständiges
und würdiges Leben zu führen“ (Absturz in die Freiheit).
Kritik am Verhalten Westdeutschlands wurde böswillig und selbstgefällig
als Mangel an demokratischer Gesinnung oder als Nostalgie nach dem
DDR-Staat, bestenfalls als Undankbarkeit gegenüber der vom
westdeutschen Staat erhaltenen Hilfe ausgelegt. Und natürlich
war es hoch unwillkommen, auf die positiven Aspekten des SED-Regimes
hinzuweisen. Überhaupt galt das Wort Sozialismus als Unwort,
auch dann, wenn die Rede ausdrücklich von einem demokratischen
und humanen Sozialismus war. Einzig legitim war die in der Bundesrepublik
und in der westlichen Welt herrschende bürgerlich-kapitalistische
Ordnung. Die Beseitigung des Mauerstaats schloß stillschweigend
und wie selbstverständlich die Verbannung jeden Gedankens ein,
der das Dogma der freien Marktwirtschaft in Frage stellte. Auch
und gerade in dieser Hinsicht Bevormundung und Belehrung, Dogmatik
und Einheitsdenken.
Das Herz des spanischen Ritters schlug für die Entrechteten
und Unterdrückten, für die Besiegten und Gedemütigten
Ich verspüre wenig Lust, mich eingehend mit dem strittigen
und traurigen Kapitel der Abrechnung mit den ehemaligen politischen
Kadern des DDR-Regimes zu befassen. Andere haben es mit mehr Kenntnissen
und mit einem besseren Überblick als ich selber ausführlich
getan. Ich habe mich darüber hier und da mündlich und
schriftlich geäußert. Ich habe es wieder getan im Zusammenhang
mit einem langen Kapitel, das ich Ostdeutschland in meinem Buch
„Don Quijote in Deutschland“ widme. Dort sage ich über
den Ritter: „Er war auch gegen die Bestrafung der DDR-Kadern.
In seiner eigenen Heimat Spanien wurde nach dem Tod Francos kein
einziger Mensch wegen seines Verhaltens während der Diktatur
verfolgt oder vor ein Tribunal gestellt. Auch wurde keine Behörde
errichtet, um in den Akten zu wühlen und sie öffentlich
bekannt zu machen. Würden die siegreichen Westdeutschen dem
Beispiel Spaniens folgen oder würden sie den Weg der Vergeltung
und der Bestrafung wählen?“ Damit will ich nicht sagen,
daß wir Spanier es besser machten als die Deutschen, aber
vielleicht mit der Klugheit, die schon Aristoteles für eine
der wichtigsten persönlichen und gesellschaftlichen Tugenden
hielt. Klugheit oder Einsicht in die Notwendigkeit hieß hier,
sich von den Fesseln der Vergangenheit zu lösen und ohne Ressentiments
und Rachegefühle einen Neuanfang zu wagen. Vielleicht war dabei
auch ein bißchen von der Grandezza im Spiel, die man uns Spanier
zuschreibt. Die Deutschen, oder viele von ihnen, zogen die Option
der Gesinnungskontrolle, der gegenseitigen Verdächtigungen,
der Denunziation und der Angst vor, eine Reaktion, die mich manchmal
an die Romane von Kafka und Orwell oder an der McCarthy-Ära
in den USA erinnerte. Zurecht oder unrecht denke ich, daß
es eines großen Kulturvolkes unwürdig ist, sich für
eine solche Art von Vergangenheitsbewältigung zu entscheiden,
zumal es sich hier um ein Land handelt, in dem im Namen der Staatsraison
oder einer Ideologie so viele Verbrechen begangen worden sind. Meine
donquijotische Seele vermißte hier jene Generosität,
die Spinoza als die für edle Seelen einzig in Frage kommende
Haltung betrachtete. Was mir aber am meisten mißfiel, war
die Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit, mit der sich Westdeutschland
über Ostdeutschland erhob und Gericht hielt, ohne je auf die
naheliegende Idee zu kommen, sich auf die eigenen Versäumnisse
und Schandflecken zu besinnen. Ein bißchen Demut wäre
gerade in dieser Hinsicht höchst angebracht.
Sie wissen, verehrte Anwesende, für wen das Herz des spanischen
Ritters schlug: für die Entrechteten und Unterdrückten,
für die Besiegten und Gedemütigten. Genauso empfand ich
von dem Augenblick an, an dem ich ostdeutschen Boden betrat und
anfing, Ostdeutschen zu begegnen. Die Verbundenheit, die ich spontan
mit ihnen fühlte, hatte nichts mit meiner politischen Einstellung
zur DDR und sonstigen Spielarten des Sowjetkommunismus zu tun, zu
dem ich seit Beginn meiner politischen Lehrjahre eine sehr kritische
Einstellung hatte, wie meine Bücher in spanischer und deutscher
Sprache bezeugen. Ich lasse hier wieder Don Quijote zu Wort kommen:
„Nach dem Fall der Mauer machte sich Don Quijote auf den Weg
zu der ostdeutschen Hälfte der Nation. Oder genauer: er wurde
von einigen der dortigen Bewohner dazu aufgefordert, das Land zu
besuchen. Denn obwohl die ewigen Feinde und Widersacher des Ritters
dafür gesorgt hatten, seinen Namen in den Schmutz zu ziehen
und ihn als einen verschworenen Feind Deutschlands zu brandmarken,
fehlten nicht die ostdeutschen Stimmen, die von ihm Beistand und
Orientierung für ihre Sorgen und Kümmernisse erwarteten.
Er stieg auf seine Rocinante und suchte den Weg dorthin mit gemischten
Gefühlen. Wohl wußte er, was sich seit der Errichtung
der DDR durch die sowjetische Besatzungsmacht abgespielt hatte.
Andererseits empfand er Mitleid mit den Millionen Menschen, die
durch den plötzlichen Zusammenbruch des Regimes um die Grundlagen
ihrer Existenz bangten und vor einer Ungewissen Zukunft standen.
Die meisten von ihnen freuten sich gewiß auf die Freiheit,
die ihnen plötzlich zugefallen war, aber nichtsdestoweniger
mußten sie jetzt um ihre Arbeitsplätze, ihr Einkommen
und ihre Renten fürchten. Sie zu belehren über das System,
das sie jahrzehntelang hautnah erlebt hatten, schien ihm unangebracht
und auch überflüssig, zumal sie seine Bücher kannten.
Der Ritter sah sie vor allem als Besiegte, und das war schon Grund
genug, um nicht über sie herzufallen und sie dadurch noch unglücklicher
zu machen, wie es nicht wenige Westdeutsche taten. Kritisch reagierte
der Ritter nur, wenn er auf stramme Parteigenossen stieß,
die sich weiterhin mit dem System identifizierten und ihm nachtrauerten,
sei es aus Überzeugung oder weil sie von ihm profitiert hatten“.
Bis hier Don Quijote. Ich frage mich in diesem Zusammenhang und
frage darüber hinaus alle hier Versammelten: Ist es nicht Strafe
genug, irgendwann feststellen zu müssen, daß man im Dienste
einer falschen Sache stand? Hier wäre es naheliegend, sich
auf das christliche Gebot der Barmherzigkeit oder des Erbarmens
zu beziehen, und ich tue es auch ausdrücklich, zumal die erste
Phase der Wiedervereinigung unter der Ägide einer sich christlich
nennenden Partei erfolgte. Aber ich möchte in diesem Kontext
in Erinnerung bringen, was zwei atheistische Humanisten wie Albert
Camus und Jean-Paul Sartre über Sieg und Niederlage dachten.
In seinem autobiographischen, „post mortem“ veröffentlichten
Buch „Le premier homme“ schrieb Camus: „...puisque
vencre un homme est aussi amer que d’ etre vaincu“,
„denn einen Menschen zu besiegen ist genauso bitter wie besiegt
zu werden“. Und nichts anderes meinte der junge Jean-Paul
Sartre, als er in „La Nausee“ sagte: „Seul les
salauds croient gagner“, „Nur die Lumpen glauben zu
gewinnen“. Wie schön, wohltuend und fruchtbar für
beide Teile Deutschlands wäre es gewesen, wenn die Demiurgen
der Einheit dem Beispiel einer solchen Seelengröße gefolgt
wären, anstatt auf die schäbige Karte der Bestrafung und
der Vergeltung zu setzen.
Der Glaube, daß mit dem Abbau der Mauer ein verheißungsvolles
Kapitel gesamtdeutscher Geschichte beginnen würde, erwies sich
sehr bald als Wunschdenken
Es gab nicht einmal einen Dialog, gerade das Urelement jener Demokratie,
auf die sich die westdeutschen Machtträger beriefen, um ihre
Handlungsweise zu legitimieren. Die Ostdeutschen wurden von vornherein
als die Schuldigen betrachtet, die Verantwortlichen des SED-Regimes.
Und man weiß ja, daß der Umgang, den man mit Schuldigen
pflegt, nicht das Gespräch, sondern einzig und allein die Anklage
und der Befehl ist. Ich kann nicht umhin, mich zu fragen: waren
alle Schuldige und böse Menschen, die 2,3 Millionen SED-Mitglieder,
alle vulgäre Opportunisten und Karrieremacher, die nur aus
niedrigen Beweggründen und instrumentellen Überlegungen
mitmachten? Gab es unter ihnen keine bona fide, keinen selbstlosen
Idealismus, kein uneigennütziges Engagement? Niemand kann diese
Frage beantworten, auch nicht diejenigen, die meinen, eine Antwort
darauf zu haben. Ich habe in den letzten fünfzehn Jahren Gelegenheit
gehabt, viele damalige Parteigenossen und Aktivisten kennen zu lernen,
und ich hatte in der Regel nicht unbedingt den Eindruck, daß
sie schlechtere Menschen waren, als die, die im Westen sich rühmten,
„saubere Hände“ zu haben. Es ist es ein Delikt,
anders zu denken als es die hegemoniale Ideologie zuläßt
oder vorschreibt? Ich halte mich in dieser Beziehung an Rosa Luxemburg:
„Die Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“,
auch dann, wenn der Andersdenkende das Gegenteil von mir denkt.
Gerechte Menschen in reinem Zustand gibt es nicht, hat es nie gegeben.
Nicht nur in der Brust von Goethes „Faust“ wohnten zwei
Seelen. Auch der beste Mensch hat einen Teil Negatives, schleppt
viele Deformationen und Widersprüche mit sich herum. Gerade
auf Grund unserer Unvollkommenheit müssen wir auf der Hut vor
Selbstgerechtigkeit und Selbstüberhebung sein. Das trifft für
alle Menschen zu, auch für Ost- und Westdeutsche. Gutes und
Böses, Edles und Niederträchtiges gab und gibt es auf
beiden Seiten. Nur die Umstände waren anders. Die Westdeutschen
lebten gewiß in einem freieren System als die Ostdeutschen,
aber dies war nicht unbedingt ihr eigener Verdienst; sie verdankten
es vielmehr dem Glück, unter dem Kommando einer anderen Besatzungsmacht
gestanden zu haben.
Der Glaube, daß mit dem Abbau der Mauer ein verheißungsvolles
Kapitel gesamtdeutscher Geschichte beginnen würde, hat sich
nicht erfüllt, erwies sich sehr bald als Wunschdenken. Was
jetzt herrscht, sind Verdruß und Ratlosigkeit auf beiden Seiten.
In gewissem Sinn war man sich näher in der Zeit der Trennung
als nach der Wiederherstellung der politischen Einheit. Aus den
einstigen Brüdern und Schwestern sind entfremdete, ja fast
verfeindete Verwandte geworden, während sich die ungelösten
Probleme in beängstigendem Ausmaß stapeln. Wieder einmal
sind die Deutschen Opfer jenes Übels, unter dem schon Hölderlin
litt: „Ich kann kein Volk mir denken, das zerrissener wäre
wie die Deutschen“, wie er in seinem „Hyperion“
schrieb.
Die Entwicklung der neu formierten Nation ist bisher ganz anders
verlaufen, als es sich die Vollender der Wiedervereinigung vorgestellt
hatten. Die westdeutschen Machtträger, die von Beginn an alles
besser wußten und den neuen Bundesländern Lektionen auf
praktisch allen Ebenen erteilten, schafften es nicht, ihre Versprechungen
von „blühenden Landschaften“ und ähnlich flotten
Sprüchen in die Tat umzusetzen. Nicht zuletzt deshalb mußten
sie die Regierungsmacht aufgeben. Aber auch ihre Nachfolger haben
es versäumt, die miserable Lage zu beheben, in der sich der
Osten befindet. Es sind nicht nur der unterschiedliche Lebensstandard,
die Massenarbeitslosigkeit und andere materielle Nachteile, die
die Ostdeutschen schmerzen. Fast noch schwerer für sie zu ertragen
ist das Gefühl, daß sie nicht Subjekt ihres eigenen Schicksals,
sondern bloß Objekt westdeutscher Politik sind.
„Wir sind nicht in guter Verfassung, obwohl wir eine gute
Verfassung haben“, stellte Daniela Dahn 1999 in einem ihrer
Bücher über das Verhältnis von Ost- und Westdeutschland
fest. Drei Jahre später präzisierte sie: „Die politische
Vereinigung Deutschlands hat die ökonomische Spaltung vertieft.
Die neuen Bundesländer sind heute viel weniger in der Lage,
sich selbst zu versorgen, viel verschuldeter und bankrotter, als
es die DDR je war“. Daran hat sich nichts geändert, und
wenn, dann eher in negativem Sinn. Die Bundesrepublik ist selbstverständlich
nicht das einzige Land, das sich in keiner guten Verfassung befindet,
sondern nur eines unter vielen, angefangen bei den USA, der Führungsmacht
der Welt, die den Anspruch erhebt, die Schlüssel für alle
Weltprobleme zu haben, und nicht einmal in der Lage ist, einen beträchtlichen
Teil ihrer eigenen Bevölkerung zu ernähren und ihm ein
halbwegs würdiges Dasein zu gewährleisten, von anderen
Mißständen und Schweinereien wie den Aggressionskriegen
gegen Jugoslawien, Afghanistan und den Irak ganz zu schweigen. Die
Entfremdung zwischen beiden Teilen Deutschlands ist innerdeutscher
Natur, die Probleme Gesamtdeutschlands sind aber nicht von dem beklagenswerten
Zustand zu trennen, in dem sich die Welt als Ganzes befindet. In
gewissem Sinn ist die Spaltung zwischen Ost- und Westdeutschland
ein kleines Symbol der tiefabgründigen Kluft, die weltweit
zwischen dem mächtigen Imperium Nord und den wehrlosen Parias
der Erde besteht. Vergessen wir nicht, daß die fünfzehn
Jahre Wiedervereinigung auch die Jahre des deregulierten und wilden
Kapitalismus in voller Blüte, die wirtschaftliche Krise in
Permanenz, die neue Armut, die Massenarbeitslosigkeit, der Sozialabbau,
die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm, das immer brutaler und
unverschämter werdende Diktat des Weltkapitals bei gleichzeitiger
Schwächung der Gewerkschaften und der emanzipatorischen und
anti-systemischen Kräfte im allgemeinen gewesen sind. Nur ein
statistischer Hinweis: Anfang der 90er Jahre hatte der Deutsche
Gewerkschaftsbund fast 12 Millionen Mitglieder, heute sind es nur
noch sieben Millionen. Und anderswo ist es nicht besser, eher im
Gegenteil. In den USA, der führenden Industrienation der Welt,
sind nur rund 13 Prozent der Beschäftigen gewerkschaftlich
organisiert.
Die Bundesrepublik sieht sich mit Problemen konfrontiert, die exogenen,
d.h. außenbedingten Ursprungs, aber auch mit solchen, die
endogener bzw. eigenspezifischer Natur sind. Zu erwähnen wäre
hierfür der Zustand der politischen Kultur, der nicht weniger
beklagenswert ist als der Zustand der Wirtschaft. Was sowohl die
regierenden Parteien wie die staatstragende Opposition dem Volk
anbieten und zumuten, wird immer deprimierender und erbärmlicher,
als hätten sie unisono den Beschluß gefaßt, sich
gegenseitig an Inkompetenz, Doppelzüngigkeit, Verantwortungslosigkeit
und Zynismus zu übertreffen. Tatsache ist: Unter der rot-grünen
Bundesregierung verringerte sich die Kluft zwischen Arm und Reich
nicht etwa, wie von Parteien zu erwarten gewesen wäre, die
sich als volksnah, fortschrittlich und sozialgerecht aufspielen,
sondern vergrößert. Nach Erhebungen des Deutschen Institut
für Wirtschaftsforschung lebten 2003 rund 15,3 Prozent der
Bevölkerung in Armut. 1998 waren es 13 Prozent. Dagegen stieg
der Anteil der Haushalte mit höherem und gehobenem Einkommen
im gleichen Zeitraum von 17,9 auf 19,4 Prozent. Und seit dem Regierungswechsel
zugunsten der Großen Koalition unter Frau Merkel sind die
Armen auch nicht reicher und die Reichen nicht gerade ärmer
geworden. Die politische Kaste ist allerdings nicht die einzige
Führungsschicht, die das Volk, statt für sein Wohl zu
sorgen, zunehmend im Stich läßt. Ähnlich verhält
sich die Wirtschaftsoligarchie, unter anderem deshalb, weil sie
ein Gebot der gesellschafüichen Verantwortung nicht kennt,
nur nach dem Prinzip der Profitmaximierung handelt, die Arbeiternehmer
mit immer mehr Forderungen unter Druck setzt, ihnen mit Entlassungen
droht oder sie mit der Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland
erpreßt. An die von der UNO und anderen Instanzen empfohlene
„Corporate Social Responsability“ (CSR) halten sich
Konzerne und Unternehmen immer weniger; was die meisten praktizieren
ist das, was vor einigen Jahren Viviane Forrester „la terreur
economique“ nannte. Josef Ackermann von der Deutschen Bank
ist ein Paradebeispiel dieser Haltung.
Nicht das Reich des Seins, sondern das Reich des Habens in seinen
verschiedenartigen Varianten hat die Oberhand gewonnen
Und wie reagiert der Bundessbürger angesichts dieser und anderer
Zumutungen wie Hartz IV? Er reagiert kaum, oder nur halbherzig und
für kurze Zeit. Auch sechzig Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs
und der Naziherrschaft ist der Deutsche der unpolitische Mensch
geblieben, den Thomas Mann in seinem Frühwerk „Betrachtungen
eines Unpolitischen“ paradigmatisch beschrieb. Und erstaunlicherweise
sind die Westdeutschen staatsbürgerlich noch apathischer und
konformistischer als die Ostdeutschen, obwohl sie, im Gegensatz
zu diesen, seit 1948 das Recht auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit
hatten. Der Durchschnittsdeutsche ist grundsätzlich ein Mensch
der Innerlichkeit geblieben, für die Belange der respublica
hat er in der Regel wenig übrig. Nicht zuletzt deshalb haben
die Führungsschichten in diesem Lande ein so leichtes Spiel
gehabt, und sie haben es auch heute. Das Defizit an staatsbürgerlichem
Bewußtsein ist meines Erachtens weiterhin die Achillesferse
dieses Volkes. Jene „Ausübung des Ungehorsams“,
die mein verstorbener Freund Ulrich Sonnemann seinen Landsleuten
gegen die Arroganz der Macht empfahl, hat wenig Wurzeln geschlagen.
Nach wie vor ist „civil desobedience“ hierzulande die
Ausnahme. Noch heute kann man die Spuren erkennen, die jahrhundertlanger
Obrigkeitsstaat und Drill in der Psyche dieses Volkes hinterlassen
haben. Oder wie ein russischer Offizier, der in der DDR stationiert
war, dem ostdeutschen Autor Landolf Scherzer sagte: „Die Deutschen
sind nur als Soldaten mutig! Als Zivilisten können sie nicht
kämpfen, da ducken sie sich vor der Obrigkeit, ob vor der faschistischen,
der sowjetischen oder der neuen sogenannten demokratischen“.
Gerade hier haben die Deutschen viel nachzuholen. Ihnen fehlt noch
weitgehend, was Montesquieu „vertu politique“ nannte,
gerade jene Eigenschaft, die für eine halbwegs sinnvolle und
fruchtbare Entwicklung eines demokratischen Staats- und Gemeinwesens
unverzichtbar ist.
Politisches Desinteresse ist allerdings keine ausschließlich
deutsche, sondern eine weit verbreitete Erscheinung, auch in Ländern,
die sich ihrer nonkonformistischen, aufbegehrenden Tradition rühmen.
Nicht von ungefähr heißt eines meiner deutschen Bücher
„Das Elend des Politischen“. In gewissem Sinn sind spätkapitalistische
Ordnung und Anpassung um jeden Preis Zwillingsschwestern geworden.
Deshalb wird Widerstand gegen die täglich erlebte Negation
immer seltener und schwächer. Was sich durchgesetzt hat, ist
eine Demokratie ohne aktive Demokraten. Wir sind wieder in die Zeit
des panem et circenses zurückgefallen, nur daß es heute
mehr Zirkus als Brot gibt. In den flotten Jahren des „Wohlstand
für alle“ und der „Gesellschaft im Überfluß“
verhielt man sich brav, weil man alles in allem zufrieden war, heute
aus Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Das abendländische
Subjekt, das sich auf dem Weg neoliberaler Globalisierung vorgenommen
hat, die Welt zum zweiten Mal zu kolonisieren, ist daheim selbst
ein kolonisiertes Subjekt. Im Ganzen ist man ein zahmes, domestiziertes
Tier geworden. Und die ersten, die das wissen, sind die großen
Bosse; deshalb werden sie immer arroganter und unverschämter.
Ich frage mich entsprechend, ob die Bundesrepublik und mit ihr
die ganze westliche Welt so frei ist, wue sie sich einbildet und
behauptet. Viele glauben es, ich meinerseits bin der Ansicht, daß
wir einen tief unfreiheitlichen Abschnitt der Weltgeschichte erleben.
Oder sind die totale Herrschaft des Kapitals und die Verabsolutierung
des Profitdenkens nicht eine Modalität der Unfreiheit? Hatte
Herbert Marcuse Unrecht, als er in seinem Werk „Der eindimensionale
Mensch“ das im Westen herrschende System als „demokratische
Unfreiheit“ bezeichnete? Der Mensch ist nur frei, wenn er
es gemeinsam mit seinen Mitmenschen schafft, ein Lebens- und Gesellschaftsmodell
auf die Beine zu bringen, das im Dienste des Humanen und des Gerechten
steht. Eine Gesellschaft, die kein anderes Gesetz als das brutale,
pietätlose Gesetz des Hobbesschen Kriegs aller gegen alle kennt,
ist meines Erachtens das gerade Gegenteil einer freien Gesellschaft.
Und das ist heute genau der Fall. Denn wohin wir auch die Augen
richten, sehen wir denselben erbarmungslosen „Struggle for
Life“, dieselbe hemmungslose Jagd nach Macht und Geld, denselben
Egoismus und dieselbe Ausgrenzung und Demütigung der „Verdammten
dieser Erde“. Nicht das Reich des Seins, sondern das Reich
des Habens in seinen verschiedenartigen Varianten hat die Oberhand
gewonnen. Freiheit ist weit mehr als das Recht, in bestimmten Abständen
an die Urnen zu gehen und bei der Wahl der jeweiligen politischen
Machtträger mitentscheiden zu dürfen. Sie schließt
auch das Recht auf ein würdiges Dasein, auf einen sicheren
Arbeitsplatz, auf ein ausreichendes Einkommen und auf ein Mindestmaß
an Glück ein. Diese Ziele erfordern allerdings ein ethisches
Niveau, das in der heutigen Welt nirgends existiert. Die Verfassung
eines Gemeinwesens hängt immer von der inneren oder seelischen
Verfassung seiner Mitglieder ab. Das ist die Grundlehre, die Platon
und sein Schüler Aristoteles uns vermittelt haben. Obwohl beinahe
2.500 Jahre alt, gilt diese Lehre nach wie vor. Von einer politisch-ethischen
Dimension im Zusammenhang mit dem Raubtier-Kapitalismus der Gegenwart
zu sprechen, ist eine eklatante contradictio in adjecto, schon deshalb,
weil die ganze gesellschaftliche Dynamik unter dem allumfassenden
und alles durchdringenden Diktat der Ökonomie steht und keine
andere Wahrheit zuläßt als das Kosten-Nutzen-Kalkül.
Wie kann eine Gesellschaft frei sein, die die Kategorie des Nächsten
eliminiert und sie durch den „Imperialismus des Ichs“
ersetzt hat? Was das System und ihm hörige Medien als Freiheit
propagieren, ist Ideologie, nicht die Wahrheit. Das Bestehende ist
weder das Wahre noch das Vernünftige, sondern das Unwahre und
Irrationale, deshalb auch das Unfreie. Was man heute Pluralismus
nennt, ist nur ein anderes Wort für die Abwesenheit allgemeingültiger
und allgemeinbindender ethischer Kriterien. Nach wie vor leben wir
in einer Welt, die auf der Grundlage der Herrschaft des Menschen
über den Menschen aufgebaut ist. Dies zu verleugnen, wie es
die Apologeten des Status quo tun, ist der erste Akt der Unfreiheit.
„Frei und verantwortlich ist nur der moralische Mensch“
meinte der US-amerikanische Philosoph John Dewey in seinen „Lectures
on ethics“. Er tat freilich nichts anderes, als das zu wiederholen,
was die großen Denker und Erzieher der Menschheit immer gelehrt
haben, unter ihnen Spinoza, der wahre Freiheit als den Willen zur
geistigen und menschlichen Vervollkommnung auffaßte, ein Anliegen,
das sich wiederum und an erster Stelle im Umgang mit unseren Mitmenschen
bewahren muß. Das gängige Streben nach Selbstverwirklichung
hat sich entsozialisiert und von jeglicher zwischenmenschlichen
und kollektiven Dimension abgekoppelt. Das einzige, was zählt,
ist das, was MacPherson „possessiven Individualismus“
nannte und die postmodeme Theorie als „Differenz“ oder
„Singularität“ versteht, also nichts anderes als
das, was Norbert Elias zutreffend als „wirloses Ich“
bezeichnete. Wir leben in einer Zeit, in der sich die Einzelnen
gegenseitig abkapseln und nur an ihr eigenes Wohlergehen denken.
Es fehlt die Religio in ihrem ursprünglichen etymologischen
Sinn, als Bindung an den anderen. Dies ist auch die wahre „Irreligiosität“,
die sich nach dem von Nietzsche verkündeten Tod Gottes durchgesetzt
hat: der Tod der zwischenmenschlichen Banden. Für mich steht
aber fest, daß ohne die Einbeziehung der anderen in unseren
Daseinsbereich keine Selbstverwirklichung möglich ist, die
diesen Namen verdient. Hier stimme ich mit der Ansicht Emmanuel
Levinas überein, daß unser Sein nicht „Sein zum
Tode“ ist, wie Heidegger meinte, sondern „Sein zum Anderen“.
Die heute weit verbreitete Gleichsetzung von Selbstverwirklichung
und Ich-Expansion führt unweigerlich und ausnahmslos zur Ausweglosigkeit
oder Aporie, wie dieses Wort auf griechisch heißt. Wir Abendländer
prahlen ständig mit unserem materiellen Reichtum und vergessen
dabei, daß wir in immaterieller Hinsicht immer ärmer
werden und uns in tiefster Not befinden, wie der akute Mangel an
Humanität, Güte, Solidarität, Hilfsbereitschaft und
Selbstlosigkeit beweist.
Ich komme zum Schluß. Es war nicht meine Absicht, Sie mit
meinen kritischen und teilweise düsteren Ausführungen
zu entmutigen. Das ist keineswegs der Fall, es würde auch nicht
zu meiner donquijotischen Gesinnung passen. Aber sich selbst wahrzunehmen
bedeutet heute an erster Stelle, sich des krassen Mißverhältnisses
bewußt zu werden, das zwischen dem eigenen Selbst und dem
Weltganzen besteht. Alles andere ist totale Verkennung unserer wahren
Befindlichkeit. Aber ich füge hinzu: solange wir unsere prekäre
Lage nicht zugeben und uns Illusionen über sie machen, wird
es uns auch nicht gelingen, uns gegen die Übermacht zur Wehr
zu setzen, die uns erdrückt - und darauf kommt es letztendlich
an. Sich für bestimmte Werte einzusetzen, ist nie sinn- und
nutzlos, auch dann nicht, wenn wir dadurch weniger erreichen, als
uns lieb wäre. Wir müssen tagtäglich lernen, auch
und gerade unter ungünstigen Bedingungen uns dem Kampf für
eine humanere und gerechtere Welt zu stellen. Ich schließe
deshalb meine Ausführungen mit den Worten, die der längst
vergessene, aber große katholische Schriftsteller Reinhold
Schneider in seinem Werk „Briefe an einen Freund“ schrieb:
„Und so müssen wir das Bestehende einfach aufnehmen als
den Schauplatz unserer Bewährung; wie groß auch die Macht
des Unrechts sein mag, so ist doch immer eine Möglichkeit,
für das Recht zu leben“.
Aus: »Würde und Widerstand. Menschlichkeit
in einer unmenschlichen Welt Essays, Vorträge, Kontroversen«.
PapyRossa Verlag, Köln 2007. 232 Seiten 18,– Euro
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