XXV. Jahrgang, Heft 141
Jul - Aug - Sep 2006/3

 
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Letzte Änderung:
03.06.2006

 
 

 

 
 

 

 

Integrationale Intentionen

20 Jahre Zentrum für Türkeistudien

Von Andreas Goldberg

         
 
 

Am 19. Oktober 2005 feierte das Zentrum für Türkeistudien im NRW-Landtag sein 20jähriges Bestehen. Zu den Rednern der Jubiläumsveranstaltung gehörten Landtagspräsidentin Regina van Dinther, Generationenminister Armin Laschet, der l. Bürgermeister der Stadt Essen Norbert Kleine-Möllhoff sowie für das ZfT der Vorstandvorsitzende Enno Vocke und der Direktor Faruk Sen.

Dieses Jubiläum soll auch Anlass sein, in der Zeitschrift für Türkei die 20jährige Tätigkeit des Instituts Revue passieren zu lassen.

Im Jahr der Gründung des ZfT 1985 lebten bereits rund 1,4 Millionen Menschen aus der Türkei in der Bundesrepublik, immerhin ein Anteil von 2,5% an der Gesamtbevölkerung. Damit waren sie die mit Abstand größte Gruppe nicht-deutscher Herkunft. Zugleich begann sich ihr Aufenthalt zu verfestigen, und es zeichnete sich ab, dass ein Großteil der „Arbeitsmigranten“ aus der Türkei und ihre Familien nicht in die Türkei zurückkehren würden. 60% von ihnen waren bereits seit zehn Jahren oder länger in Deutschland. Angesichts der großen und dauerhaften Bedeutung der türkischen Bevölkerung in Deutschland war das Wissen der deutschen Gesellschaft um die Türkei und ihre Menschen noch gering sowie die zwischenstaatliche und zivilgesellschaftliche Kooperation wenig ausgeprägt. Das Zentrum für Türkeistudien trat an, dies zu ändern.

Der Startschuss zur Arbeit des ZfT fiel mit der deutsch-türkischen Tagung „Zukunft in der Bundesrepublik oder Zukunft in der Türkei“ mit über 200 Teilnehmern in Essen. Wichtiger Tenor der Tagung ist, dass die Bedeutung der Remigration in die Türkei in den kommenden Jahren deutlich abnehmen wird. Der deutschen Gesellschaft stellen sich umfangreiche Integrationsherausforderungen, zumal mit dem Strukturwandel die Migrationszentren wie das Ruhrgebiet einen wichtigen Teil ihrer wirtschaftlichen Integrationskraft einbüßten. Merkmale sind etwa Arbeitslosigkeit und die Schrumpfung der Bevölkerung. Die ehemaligen „Gastarbeiter“ und ihre Nachkommen waren schon damals von diesen Veränderungen besonders betroffen, da sie überdurchschnittlich häufig in den alten Industrien (Bergbau, Stahlindustrie) beschäftigt waren. Während Produktions- und Erwerbsstrukturen in einem Differenzierungsprozess begriffen sind, bleibt die Zuwanderungsgeschichte jedoch erhalten. Für das Zentrum für Türkeistudien stellte sich die Frage, wie diese Vielfalt der Kenntnisse und Erfahrungen genutzt und durch welche Strategien sichergestellt werden kann, dass die Zuwanderer an der wirtschaftlichen und sozialem Entwicklung partizipieren.

Die Modellprojekte des Zentrums für Türkeistudien zur Förderung der ethnischen Ökonomie, zur Entwicklung von Strategien des „Ethno-Marketing“ und die Unterstützung deutsch-türkischer Untemehmenskontakte hatten hier ihren Ausgangspunkt. Das ZfT führte bereits in den Jahren 1985/86 seine erste Studie zur türkischen Selbständigkeit in Deutschland im Auftrag der Internationalen Arbeitsorganisation durch. Lang bevor das Thema in Politik und Öffentlichkeit Konjunktur bekam, legte das ZfT damit einen Grundstein für Maßnahmen, die inzwischen selbstverständlicher Bestandteil der Wirtschaftsförderung geworden sind. Seit 1994 haben unzählige Gründer aus der Migrantencommunity ihren Weg über die Regionalen Transferstellen am ZfT in die Selbständigkeit gefunden.

Aber das ZfT verstand sich auch immer als Vernetzungsstelle zwischen der deutschen und der türkischen Gesellschaft.

Heute bestehen über 100 Kooperationen zwischen deutschen und türkischen Hochschulen, die sich auf praktisch alle Disziplinen erstrecken. Die Stiftung Zentrum für Türkeistudien führte regelmäßige Bestandsaufnahmen der deutsch-türkischen Hochschulkooperationen durch und versteht sich als Informations- und Kontaktstelle für kooperationswillige Institute, Fachbereiche und Hochschulen. 1994 erarbeitete das ZfT im Auftrag des DAAD den ersten Studienführer Türkei.

Seit 1988 besteht die „Zeitschrift für Türkeistudien“, das wissenschaftliche Periodikum des ZfT, das sich als Forum für die Forschung zu türkeibezogenen Themen versteht. Die Zeitschrift wurde damit auch zu einem wichtigen Organ der deutsch-türkischen Hochschulzusammenarbeit, in dem die Ergebnisse gemeinsamer deutsch-türkischer Projekte vorgestellt und diskutiert wurden. Die Zeitschrift für Türkeistudien wird gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft.

Zahlreiche Veränderungen im Internationalen System seit 1985 haben auch auf die Arbeit des ZfT zurückgewirkt. Nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes wandelte sich das das Bild der Migration nach Deutschland. Neben der größten Gruppe aus der Gastarbeitermigration, den Türkinnen und Türken, etabliert sich eine zweite große Herkunftsgruppe, die auch neue Herausforderungen an die Integrationspolitik stellt. Für die Türkei bedeutete das Ende der Sowjetunion tiefgreifende Veränderungen ihres geopolitischen Umfelds. In der Folge widmete sich das ZfT im Rahmen von Veranstaltungen und Studien verstärkt den Entwicklungen in den neuen mittelasiatischen Turkrepubliken und den Beziehungen dieser Staaten zur Türkei und zu Europa. Das Ende des Ostblocks führte auf dem Balkan zu Instabilität und Krieg. Das ZfT stellte sich in den 1990er Jahren die Aufgabe, die ethnischen Konflikte auf dem Balkan wissenschaftlich zu untersuchen und Modelle zur Konfliktprävention und -lösung auszuarbeiten, was in zahlreichen Publikationen der Reihe ZfT-aktuell dokumentiert ist, darunter Studien, darunter Feldforschungen in Mazedonien und Analysen des Kosovo-Konflikts. Das ZfT adressiert diese Thematik auch in Form von Konferenzen und Workshops, darunter die Konferenz „Das neue Kosovo: Zukunftsperspektiven für Kosovo-Rückkehrer“, unter Beteiligung der Oberbürgermeister von Prishtina, Prizren, Gjilan und Mitrovica.

Auch für das ZfT selbst brachte das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gravierende Veränderungen mit sich. 1991 zog das Zentrum von Bonn nach Essen. Während die Forschung zu Migration und Integration am Institut immer mehr an Bedeutung gewann, war das ZfT damit in der Mitte einer der wichtigsten europäischen Zuwanderungsregionen beheimatet. Zugleich wurde das ZfT Institut an der Universität Essen und etablierte sich damit auch als frühes Beispiel für wettbewerbsnahe wissenschaftliche Forschung mit gleichwohl hohen Qualitätsstandards. Bereits bei der Gründung des ZfT war eine Anbindung an eine Hochschule vorgesehen. Auf Basis eines Kopperationsvertrages zwischen Wissenschaftsministerium, ZfT und Universität erfolgte dann die Anbindung in Form eines An-Institutes.

Die rechtsradikale Gewalt zu Beginn der 1990er Jahre brachte einen Schub für die Diskussion um das Zusammenleben in Deutschland. Immer stärker trat ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, dass die Bundesrepublik sich auf den dauerhaften Verbleib der Zuwanderer anderer sprachlicher, religiöser und kultureller Prägung bisher kaum eingestellt hatte. In diesem Klima konzipierte das Zentrum für Türkeistudien eine Reihe von Modellprojekten, die es ab Mitte der 1990er Jahre durchführt und die einen Beitrag zu einer funktionierenden interkulturellen Gesellschaft leisten sollten. So wendete sich das ZfT einer Reihe neuer Fragen zu: Wie können effektive Maßnahmen interkultureller Konfliktbewältigung in Institutionen verankert werden? Wie muss eine kultursensible öffentliche Verwaltung aussehen? Welche Chancen bietet „Diversity Management“ in den privaten Unternehmen?

Das Zentrum für Türkeistudien entwickelte sich in den 1990er Jahren auch zur deutschlandweit führenden wissenschaftlichen Einrichtung zum Thema Migration und Dritter Sektor. Es führt in Kooperation mit dem Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster die erste systematische Bestandsaufnahme von Migrantenselbstorganisationen in Nordrhein-Westfalen durch. Im Auftrag des Bundesfamilienministeriums fand am ZfT im Jahr 2004 erstmalig eine Repräsentativstudie zum freiwilligen Engagement in der türkischen Community statt.

Seit dem 11. September 2001 wird die Integrationsdebatte in Deutschland zunehmend vom Islam dominiert. Im Rahmen empirischer Studien erforscht das Zentrum für Türkeistudien die Veränderung des Islamverständnisses in der Migration - denn wie die Lebenswirklichkeit der Migrantinnen und Migranten unterliegt auch ihre Religiosität einem dynamischen Wandel. Dieser Wandel besteht nicht in einer Abkehr vom Glauben, aber in der Suche nach einem modernen, liberalen Religionsverständnis, das Tradition und Leben in Deutschland vereinbar werden lässt. So ist für das Zentrum für Türkeistudien die Arbeit zum Islam und zu Muslimen in Europa von herausragendem Interesse. Der kulturellreligiösen Wandel bleibt von der Öffentlichkeit noch weitgehend unbemerkt - dies ist ein schlechte Vorausstzung, wenn es darum geht, dass Ansätze eines emanzipatorischen Islamverständnisses unterstützt werden sollen.

Auf Initiative und mit Unterstützung des ZfT besuchen zahlreiche Politiker die Moscheen und islamischen Vereine in Deutschland. Das Zentrum für Türkeistudien beteiligt sich intensiv an der Aufarbeitung der Folgen des 11. September. Es versteht die Konflikte dabei nicht als Belege für den von Samuel P. Huntington prophezeiten „Clash of Civilisations“, sondern fragt nach der Vereinbarkeit von Moderne und Islam. In der Folge des 11. September wird auch die Integration der Muslime in Deutschland zu einem vieldiskutierten Thema. Viele Muslime unterstellen den Deutschen eine pauschale Wahrnehmung des Islam. Zugleich steigt die Bedeutung der Türkei als Beispiel für die Vereinbarkeit von Islam und Pluralität, während die terroristische Bedrohung eben die Offenheit der Gesellschaft der Türkei auf die Probe stellt. Am ZfT bietet die jährlich stattfindende Mehrthemenbefragung zur Lebenssituation der Türkinnen und Türken in Nordrhein-Westfalen einen Seismographen für die Veränderung der Bewussteinslage im Land. Das ZfT führt weitere Projekte zur türkischen Außen- und Sicherheitspolitik so wie zur Entstehung von Islamphobie in Europa durch.

2001 erhielt das ZfT als NGO Konsultativstatus beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen. Das Institut nutzt die Rolle, um im Rahmen der Vereinten Nationen für nationale Einwanderungspolitiken zu werben, die einen fairen Ausgleich zwischen den Interessen der Migranten und den Aufnahmeländern herbeiführen. Das ZfT wird ein Jahr später eine Stiftung des Landes NRW.

Das ZfT begleitet den Reformprozess in der Türkei seit 2002 mit Veranstaltungen in Istanbul, Ankara und Berlin. Dazu zählte beispielsweise eine Diskussionsveranstaltung mit dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin unter dem Motto „Reformprozess in der Türkei - Annäherung an die EU?“

Das Zentrum für Türkeistudien arbeitet heute für intensive Beziehungen von Europa und Deutschland mit der Türkei. Der Prozess eines Beitritts zur EU wird dabei als ideale Grundlage für die Vertiefung der Beziehungen verstanden. Die Arbeit des ZfT geht und ging aber immer über die Frage des EU-Beitritts hinaus. Das Institut sieht sich in der Kontinuität einer reichen und vielschichtigen europäisch-türkischen Historie, die das Exil deutscher Wissenschaftler in der Türkei während der Nazi-Zeit ebenso einschließt wie die Arbeitsmigration aus der Türkei. Der Initiierung und Begleitung politischen Dialogs stellt das Zentrum die ebenso wichtige Förderung des zivilgesellschaftlichen Austauschs in Wissenschaft, Kultur, Sport und anderen Bereichen an die Seite. In der Förderung der Nicht-staatlichen Organisationen in der Türkei und ihrer Kooperation mit der europäischen Gesellschaft sieht das ZfT einen wichtigen Beitrag zum Gelingen einer Integration der Türkei in die EU.

Mit dem Wandel der zugewanderten Bevölkerung in Deutschland und Europa sowie der Weiterentwicklung der türkisch-europäischen Beziehungen stellen sich auch für die Stiftung Zentrum für Türkeistudien immer neue inhaltliche Aufgaben. Mit der Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei hat die Europäische Union dem gegenseitigen Annäherungsprozess eine neue Qualität gegeben. Damit steigt zugleich der Informationsbedarf der türkischen und europäischen Öffentlichkeit zu ganz konkreten Fragen der rechtlichen, politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Kohäsion.

Diesen Entwicklungen stehen im weltpolitischen wie im lokalen Maßstab seit dem 11. September 2001 aber auch deutlich desintegrative Entwicklungen gegenüber. Einher geht damit die Abgrenzung der islamischen und der westlichen Tradition und die Verfestigung entsprechender Stereotype, die die Stiftung ZfT durch ihre Tätigkeit aufbrechen will.

Das ZfT ist heute ein Kompetenzzentrum, das täglich bis zu 100 Anfragen von Bürgern, Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Medien erreichen. Auch dies ist Beleg dafür, wie das Institut Wissenschaftliche Qualität und Anwendungsorientierung verbindet.

Stiftung Zentrum für Türkeistudien
Türkiye Arastirmalar Merkezi Vakfi
(Institut an der Universität Duisburg-Essen)
Altendorfer Straße 3, 45127 Essen
Tel. 0201/31 98-0, Fax 0201/31 98 333
www.zft-online.de

   

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